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By Irmgard Lumpini, Heiko Schramm Studio B
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Literaturkritik und Themen, die uns bewegen lobundverriss.substack.com

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Florian Illies: 1913. Was ich unbedingt noch erzählen wollte
Florian Illies: 1913. Was ich unbedingt noch erzählen wollte
Episode in Studio B
Florian Illies, nicht nur deutscher Autor, sondern auch Kunsthistoriker, Journalist und Kunsthändler, veröffentlichte 2012 seinen Roman 1913. Der Sommer des Jahrhunderts, welcher in kürzester Zeit zum Bestseller wurde, mittlerweile in 28 Sprachen übersetzt wurde und sein bislang größter kommerzieller Erfolg ist. 2017 wurde es durch mich bei Studio B. Lob und Verriss wohlwollend besprochen, jedoch entging mir lange Zeit, dass Florian Illies bereits ein Jahr nach meiner Rezension einen Nachfolgeroman mit dem Titel 1913. Was ich unbedingt noch erzählen wollte, ebenfalls im S.Fischer Verlag, veröffentlichte. Wir tauchen also erneut ein in das Vorkriegsjahr 1913, in dem uns Florian Illies, wie auch schon im Vorgängerband, anhand meist kurzer Anekdoten, in die umfangreichen Kreise bestehend aus Künstlern, Musikern, Literaten, aber auch Politikern einführt. Wie umfangreich das Personal ist, dessen er sich dabei bedient, macht schon das Register deutlich, das sich am Ende des Romans befindet und ja, um bei der Wahrheit zu bleiben, auch die Handelnden aus dem ersten Band werden hier aufgeführt, wobei die Schnittmenge der Personen, die in beiden Romanen vorkommen sehr hoch ist. Dieses Mal gliedert Illies sein Buch jedoch nicht in Monate, sondern in Jahreszeiten, beginnend beim Winter 1913. So erfahren wir beispielsweise über diesen Winter, dass die Zigarettenmarke „Camel“ in North Carolina gegründet wird, die die erste ist, die Zigaretten in Zwanzigerpackungen anbietet und das 20. Jahrhundert der Zigarettenindustrie beginnt. Und für alle, die es bis heute nicht wussten, ziert das Cover der Marke „Camel“ entgegen des Namens kein Kamel, sondern ein Dromedar. Wir lernen aber auch das Tilly Durieux, Lou Andreas-Salomé, Alma Mahler, Coco Chanel, Ida Dehmel und Misia Sert – letztere war mir bis dato gänzlich unbekannt – zu den zentralen Frauenfiguren dieser Zeit gehören. Illies liefert aber nicht nur eine Unmenge an Informationen ab, sondern schafft es auch immer wieder, sie auf komische Weise zu verpacken, wie die Information, dass der 26-jährige Inder Srinivasa Ramanujan es zwar schaffte, hundert der größten Rätsel der analytischen Mathematik zu lösen, mit seinem kurz darauf folgenden Tod aber nicht gerechnet hatte. Oder als weiteres Beispiel: „1913 ist das Jahr, das das 19. Jahrhundert und das 20. Jahrhundert unauflöslich miteinander verbindet. Kein Wunder, dass deshalb am 29. April 1913 Gideon Sundback das Patent für den Reißverschluss erhält.“ (S.92) Darüber hinaus erfahren wir, dass die Neurasthenie nicht nur die Krankheit des Jahres 1913 ist, eher undefiniert und „für jedwedes psychosomatische Unwohlsein und Nervenleiden“ (S. 67) steht, so dass viele der großen Dichter wie Rilke oder Kafka, sich die Diagnose gleich mal selbst stellen, sie aber in der Literatur auch viel Spott auf sich zieht. Und apropos Rilke, seinem Running Gag, den es auch schon in Der Sommer des Jahrhunderts gab, bleibt Illies sich auch in diesem Band treu. Er lautet ganz einfach: „Rilke hat Schnupfen“ und verweist natürlich auf seinen stets kränkelnden Zustand. Während der Chemiker T.L. Williams im Frühling nicht länger mit ansehen kann, dass seine Schwester unglücklich in ihren Chef verliebt ist und daraufhin Kohlenstaub und Vaseline mischte, wodurch er die Wimperntusche Mascara erfand, was nicht nur zur Folge hatte, dass seine Schwester ihren Chef eroberte, sondern auch, er mit der Firma Maybelline den Weltmarkt. Veröffentlichte einige Zeit später Blanche Ebutt in Amerika den Ratgeber mit dem Titel „Dont´s for Husbands“ der schon damals den wichtigen und revolutionären Rat beinhaltet: „Hören sie auf, sich die ganze Zeit Gedanken über ihre Gesundheit zu machen. Wenn sie wirklich krank sind, suchen sie bitte einen Arzt auf, anstatt die Frau an Ihrer Seite die ganze Zeit mit Vermutungen darüber verrückt zu machen, was Ihnen eventuell fehlen könnte.“ ( S. 121) Amen! Es ist diese Fülle an Ereignissen und Informationen, die Florian Illies zusammen trägt, die dieses Buch so lesenswert machen. Neben zahlreichen Erfindungen und Patenten dieser Zeit, über die Illies uns in Kenntnis setzt, führt er uns auch das Leben der großen Dichter, Maler und Musiker vor Augen. Auf ihre engen Verbindungen und Entwicklungen kommt er, in meist wenigen Sätzen bzw. Episoden, immer wieder zurück, wodurch sie einem beim Lesen regelrecht nah und anschaulich erscheinen. Durch die Dichte an Informationen und Geschehnissen scheint das Jahr 1913 greifbar zu werden. Ein gewisser Fokus auf die Liebschaften, Affären, Bettgeschichten und ähnliche zwischenmenschliche Gegebenheiten, die Potenzial für Spannung bieten, ist dabei unverkennbar. Man gewinnt den Eindruck, dass die Prominenz dieser Zeit frei nach dem Motto „Wein, Weib und Gesang“ lebte. Aber es ist ein Lebensgefühl, das Florian Illies versucht, dem Lesenden nahe zu bringen, weg von der Bedrohlichkeit, die diese Jahreszahl im Allgemeinen suggeriert. Das Tempo ist dabei rasant, da man durch die permanenten Szenenwechsel auch gedanklich immer wieder umschalten muss. Aber kein Detail ist unwichtig, einzig durch die Fülle derer, fielen viele schon kurz nach dem Lesen wieder der Vergessenheit anheim. Dennoch schwappt Illies Faszination für das Jahr 1913 auf einen über. Es muss den Autor unfassbar viel Zeit gekostet haben, all diese winzigen Details und Kleinigkeiten zu recherchieren, die der Leser innerhalb kürzester Zeit verschlingt – schon allein dafür hat er meinen Respekt. Es wird daher auch nicht verwundern, dass ich für Florian Illies' 1913. Was ich unbedingt noch erzählen wollte, das so wunderbar kurzweilig, informativ, witzig und charmant geschrieben ist, meine Empfehlung ausspreche. Ich ende mit einem Zitat aus dem Sommer des Jahres 1913, welches eine Erkenntnis Florian Illies' ist und mir viel Freude bereitet hat: „Es ist keine Freude, Frau eines kubistischen Malers zu sein.“ (S.135) This is a public episode. 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07:06
Navid Kermani: Entlang den Gräben
Navid Kermani: Entlang den Gräben
Episode in Studio B
Rewilding ist gerade sehr in. Auf deutsch “verwildern”, überlassen Leute, die es sich leisten können, ihre privaten Ländereien bewusst der Mutter Natur. Aber da der planende Mensch ohne Plan nicht kann, sitzt er nicht einfach auf dem Feld und schaut zu, was passiert, oder dreht ihm gar den Rücken zu und lässt die Mutti endlich in Ruhe. Nein, er legt erst mal einen Teich an, für die Fische. Und dann einen Zulauf für die Biber. Und stellt Bienenkästen drauf und schlägt einen Pfad zur Wildparzelle, denn die will er seinen Bankerfreunden zeigen und auf der Aussichtsplattform beim Grauburgunder über ökologische Marktwirtschaft schwätzen. Es konnte nicht lange dauern, bis die Ersten den Begriff zur Metapher machten und nun rewilden wir, die wir uns das leisten können, also Leute, die noch Zeit haben Bücher zu lesen und darüber zu schreiben, wir rewilden also unser Hirn. Ok, unsere Timeline, unsere ToDo-Apps und unsere geshareten Kalender. Denn auch wir, also ich, können nicht einfach in den letzten verbliebenen Zeitungskiosk im Viertel gehen und eine zufällig gewählte Superillu durcharbeiten, auf dass wir inspiriert werden. Wir abonnieren stattdessen Blogs, die uns Google zum Thema “rewilding” vorgibt und führen Notiz-Apps, in denen wir die Ergebnisse notieren und zur Verwertung vorhalten. Und doch, wenn wir Freunde haben und wie ich gerade im rewilding mode sind, lassen wir uns auf einmal Bücher empfehlen und legen Sie nicht nur auf dem Kindle ab, sondern lesen sie auch. Wirklich! Fast sofort! Wild. So geschehen mit dem hier zu besprechenden Buch “Entlang den Gräben” von Navid Kermani, empfohlen vom Freund der Show und notorisch reisenden Mirko Glaser of the Blue Note Fame. Worum geht’s? Navid Kermani bereiste im Jahr 2016 eine Gegend, die wir alle damals eher ignorierten, bis sich am 24.2.2022 auf einmal alles änderte. Ab da hießen diese uns bisher nur milde interessierenden Länder jenseits der Oder auf einmal “NATO-Ostflanke”. Für weit über 100 Millionen Menschen blieben sie “die Heimat”. Diese Länder, vom Baltikum über Polen, die Ukraine, mit einen Abstecher nach Russland durch Georgien bis zum Iran hinunter hat der Autor bereist und berichtet uns in seinem Tagebuch. Navid Kermani, Jahrgang ‘67, ist für diesen Zustandsbericht des östlichen Europa prädestiniert, wuchs er zwar im tiefsten Westen der BRD auf, jedoch als Sohn von Eltern, die nur acht Jahre vorher aus dem Iran eingereist waren. Er hat Philosophie studiert und Orientalistik, er hat als Reporter, Essayist, Schriftsteller gearbeitet. Wenn man sich jemanden für einen Reisebericht bauen könnte, Navid Kermani käme dabei heraus. Doch wir bekommen nicht nur ein Reisetagebuch. Kermani ist Journalist, kein Backpacker, und somit liest er vor und während der Reise Bücher zu Thema und Gebiet und tut damit dankbar nicht allwissend, sondern zitiert, empfiehlt und kurzrezensiert ein halbes Dutzend weiterführende Werke. Das wohl prägendste für den ersten Teil der Reise ist “Bloodlands” des US-amerikanischen Historiker Timothy Snyder, führte uns dieser doch in dem 2010 erschienenen Sachbuch durch eben diese Gebiete, in denen Deutsche (und natürlich auch Russen) unter der Zivilbevölkerung gewütet haben - gemordet, vertrieben, verschleppt. So führt fast jeder Tag an eine neue Stelle des Grauens, ob in Polen, den baltischen Staaten, Belarus oder der Ukraine, einfach weil in jedem Dorf und jeder Stadt ein Denkmal an die Zeit zwischen ‘39 und ‘45 erinnert. Diese Gräuel sind im kollektiven Gedächtnis jetzt achtzig Jahre her und es wird oft nur noch von Gedenksteinen erhalten, schon weil diese nun mal an Menschen erinnern, die es dort oder überhaupt nicht mehr gibt. Aber auch, weil das Dorf, der Friedhof in den Mühlen des Krieges, des Nachkrieges, des Sozialismus, des (Oligarchen-)Kapitalismus, schon wieder des Krieges, irgendwann mürbe geworden und diesen zum Opfer gefallen war. Also sucht und findet Kermani Überlebende, letzte Statthalter eines Dorfes, einer Religion, einer umgebrachten oder vertriebenen Gemeinde und spricht mit ihnen - selten eigentlich über Vergangenheit und Herkunft, fast immer über Gegenwart und das Leben im Ort. Da wären zum Beispiel die letzten Karäer, eine der ältesten jüdische Kleinsekten, wie wir lernen um 1100 aus Ägypten vertrieben, die es erstaunlicherweise in Litauen gibt, wie auf der Krim und von denen ich noch nie etwas gehört habe und deren Entdeckung somit ein gelungener Beitrag zum persönlichen Rewilding-Projekt sind. Überhaupt, die Krim: auf einmal weiß jeder alles über sie, aber sie ist immer noch ein bisschen wilder: Sie ist der originale melting pot, New York ist ein Scheissdreck: Krimtataren, Griechen, Russen, Ukrainer, Polen, Litauer, Engländer, Deutsche - alle verorten irgendetwas Ursprüngliches ebenda und kämpften und kämpfen um die paar Quadratkilometer. Soweit klingt das alles wie ein Reisebericht für politisch Interessierte, aber Kermani schafft hier mehr: Durch die intelligente Auswahl der Gesprächspartner, denen er die richtigen Fragen stellt, verbunden mit den Verweisen auf interessante und oft überraschende Stellen in der von ihm gelesenen Reiselektüre erhalten wir Erkenntnisgewinn - bedingt natürlich auch durch so einige blinde Flecke, die man hierzulande östlich der Neiße hat. Das beginnt mit der Ignoranz, mit der wir im Westen gefühlt “Europa” mal so eben an der Polnischen Außengrenze aufhören lassen und wenn wir ehrlich sind, manchmal schon eine Grenze eher. Dazu kommt die fatale Tendenz, uns fremdes Ansinnen irgendwie in das eigene Weltbild pressen zu müssen. Es ist meiner Ignoranz geschuldet, aber ich vermute nicht der Einzige in meiner Bubble zu sein, der bass erstaunt sein wird, wenn er in “Entlang der Gräben” aus dem Mund eines Mitglieds einer ethnischen Minderheit eine Verteidigung des Nationalismus hört, über den wir oft genug empört urteilen, und der hier schlüssig begründet wird. Sie geht zusammengefasst so: Ja, wir sind Nationalisten. Nicht Patrioten, nein, Nationalisten, denn wir brauchen die Identität einer Nation um zu überleben. Wenn die Deutschen einen Krieg führen, oder die Russen, egal ob als Aggressor oder Verteidiger, ob sie verlieren oder gewinnen - am Ende wird es Deutschland geben und Russland. Vielleicht etwas kleiner, vielleicht etwas schwächer. Aber es wird sie weiterhin geben. Wenn wir [Moldawier/Ukrainer/Krimtataren/Polen etc.] in einem Krieg sind, geht es ums Überleben. Wenn wir verlieren, sind wir weg. Und wir verlieren nur dann nicht, wenn wir paar Hanseln alle an das absolut Gleiche glauben, nicht an Fortschritt oder Konservatismus, an Ökologie, Frauenrechte oder die Vielehe. Wir brauchen den kleinsten gemeinsamen Nenner: “Hier in unseren Grenzen, gibt es nur [Moldawier/Ukrainer/Krimtataren/Polen..] Und ausserhalb den Feind.“ Da schlägt sich die Hand von selbst auf die Stirn. Ich habe verstanden. (Und wer mit dieser Begründung deutsche Nazis verteidigt, ist dumm.) Es gibt in “Entlang der Gräben” natürlich auch die klassischen Aha-Momente auf der Reisebuchebene und man muss sich nicht immer dumm fühlen, weil man etwas so nicht wusste, dafür sind solche Bücher da und Navid Kermani lässt hier nie den allwissenden Weltenbummler raushängen, ist selbst oft erstaunt ob seiner westelbischen Kurzsichtigkeit. So bekommen wir zum Beispiel einen Eindruck, wie verlassen und unterentwickelt der Osten Belarus’ ist oder dass es in manchen Dörfern auf der Krim kein fließend Wasser gibt. Oder dass Grosny, die doppelt zerstörte Hauptstadt Tschetscheniens, mittlerweile eine potemkinsche Stadt ist. Mit einem Mördergeld versucht Russland diese Stadt zum Aushängeschild dessen zu machen, was passiert, wenn man sich der Russischen Föderation unterwirft, nur damit das Geld in die Taschen korrupter Bauunternehmer abfließt und diese damit billigst Wolkenkratzer hin zimmern, in denen keiner wohnt, ja wohnen kann. Denn es kann sich niemand leisten, mal abgesehen davon, dass in den Wohnattrappen der Wasserdruck nur bis zum 1. Stock reicht, die Verkabelung zum Brand neigt und ständig der Stuck von der Decke fällt. Und die Wolkenkratzer mitten im Erdbebengebiet stehen. Und so ist Grosny-Downtown komplett leer, kein Mensch nirgendwo. Die Osteuropäische Geschichte, die in “Entlang den Gräben” erzählt wird, ist faszinierend, märchenhaft, ultra komplex - und in vielen ihrer Details grausam. Soviel Vertreibung und Leid macht dankbar für unseren Frieden hier. Wenn man über die Gespräche mit einer relativ jungen Schriftstellerin aus Tschetschenien liest, die mit ihren dreißig Jahren nur Krieg und Angst erlebt hat und man dann in hiesigen Zeitungen über die Verteidigung der Ukraine vom “ersten großen Krieg in Europa nach dem Ende des zweiten Weltkrieges” liest, fragt man sich und die Medienlandschaft um einen herum, wer in Geographie tiefer geschlafen hat. Natürlich liegt Tschetschenien in Europa, so wie Ossetien, Georgien, Moldau - wie kurzsichtig auf allen metaphorischen Ebenen kann man sein? Aber der Krieg in der Ukraine ist der, der uns beschäftigt, noch, und eben ob der Perspektive aus 2016 geschrieben, ist dieser Abschnitt der Reise der aktuell natürlich Interessanteste. Navid Kermanis Buch gibt dabei den Einstieg, der, so spekuliere ich, auch ohne Krieg im Land mich hätte für dieses interessiert - aber eben wegen des Krieges macht Tilo Jung ein Vierstundeninterview mit Ukrainistik-Professor Roman Dubasevych und der von Kermani oft zitierte Autor von “Bloodlands” Timothy Snyder eine ganze Vorlesungsreihe über “The Making of Modern Ukraine” die man komplett auf youtube sehen kann. Und so bin ich angefixt, lese und schaue und es stellt sich bei mir langsam ein Bild heraus, wie wichtig das Gebiet der Ukraine historisch war, warum sie das auch heute noch ist, was Putin dort will. Es wird wahrnehmbar für mich, welch seltsames und natürlich nicht einfaches Verhältnis Russen und Ukrainer zueinander haben, schon immer. Kermani manchmal und Timothy Snyder sehr bestimmt legen hier den Schwerpunkt der Begründung auf die Kolonialisierung, die jedem Krieg in der Gegend schon immer zugrunde lag und so logisch mir das nach der Lektüre vorkommt, so wenig war das auf meinem Schirm. Was wiederum die Medien, oder deren Versagen, uns diesen Krieg zu erklären und unsere damit verschobenen Perzeptionen in den Fokus bringt. Man kommt ins Denken, mein Kopf ist gleich viel verwilderter und ganz warm und wenn es der Deine sein soll oder Du einfach endlich mal einen Blick über die Oder hinaus werfen willst, hat Navid Kermani mit “Entlang den Gräben” ein ganz hervorragendes Buch geschrieben. This is a public episode. If you would like to discuss this with other subscribers or get access to bonus episodes, visit lobundverriss.substack.com
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10:21
Studio B Klassiker: Kennedy
Studio B Klassiker: Kennedy
Episode in Studio B
Zum Abschluss der Studio B Klassiker-Wochen eine historische Sendung mit Büchern vom King. Dem Stephen, versteht sich. Und damit man weiß, worüber sich Heiko Schramm, Irmgard Lumpini und Herr Falschgold am Ende in die Haare bekommen, gibt’s die komplette Sendung inklusive Rezensionen aus dem Jahr 2012. Der 22. November 1963 war für die Generation der Babyboomers, was uns 9/11 ist. JFK, der 35. Präsident der Vereinigten Staaten wird in Dallas, TX erschossen – ein immenser Riss im persönlichen Raum-Zeit-Kontinuum. Jeder, der damals schon bewusst denken konnte weiß, wo er zur Mittagszeit an jenem Tag war. Zu denen, die dieses Trauma jahrelang zumindest nicht künstlerisch verarbeiten konnten, gehört Stephen King. Ja, der Stephen King. Im Jahr 2011 vollendete er ein Werk, dass er schon vor 20 Jahren schreiben wollte und das sich mit dem Mord an John F. Kennedy auf eine Art und Weise auseinandersetzt, wie es unerwarteter kaum sein kann – in der Form eines phantastischen Romans: mit Zeitreisen, Paradoxen und allem, was zu einem Stephen King Roman dazugehört. Das dabei Weltliteratur herauskommt, beschreiben Irmgard Lumpini und Heiko Schramm in ihren ganz unterschiedlichen Rezensionen – und erklären das gerne auch nochmal Herrn Falschgold in einer Diskussionsrunde mit der passenden musikalischen Umrahmung. This is a public episode. If you would like to discuss this with other subscribers or get access to bonus episodes, visit lobundverriss.substack.com
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Studio B Klassiker: Neal Stephenson - The Diamond Age
Studio B Klassiker: Neal Stephenson - The Diamond Age
Episode in Studio B
Zum Studio B Klassiker von Irmgard Lumpini schrieben wir bei der Erstausstrahlung: Was kann man Menschen zutrauen, welche Haltung besteht gegenüber der sogenannten “Natur des Menschen” – dies ist eine der zentralen Fragen von The Diamond Age. Dabei schafft Neal Stephenson mit eingestreuten Geschichten aus der Fibel, die durch Nell gesteuert wird, nebenbei noch einen Rückblick auf Technikgeschichte… Durch die jüngsten Enwicklungen in Sachen KI aktueller denn je eine unbedingte Hörempfehlung! This is a public episode. If you would like to discuss this with other subscribers or get access to bonus episodes, visit lobundverriss.substack.com
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Studio B Klassiker: Tove Ditlevsen - Gesichter
Studio B Klassiker: Tove Ditlevsen - Gesichter
Episode in Studio B
Ende Mai plant der Aufbau Verlag eine neue Veröffentlichung aus Tove Ditlevsens Werk. Ein guter Moment, sich an dieser Stelle noch einmal mit der zuletzt auf deutsch übersetzten Veröffentlichung zu befassen. Anfang des letzten Jahres wurde Tove Ditlevsens wiederentdeckte Kopenhagen-Trilogie, in der sie autofiktional ihre Kindheit und Jugend im Kopenhagen der 1920er Jahre beschreibt, und die in Dänemark bereits 1967 erstmals erschien, auch endlich auf deutsch veröffentlicht und nicht nur von mir bewundernd aufgenommen und besprochen. Die in Kopenhagen geborene Autorin, die bereits von 1917 bis 1976 lebte und lange nicht in die literarischen Kreise ihrer Zeit gepasst haben soll, erlebt seit der Neuauflage ihrer Romane einen posthumen Erfolg für ihre Werke, der ihr auch schon zu Lebzeiten zugestanden hätte und durch den sie nun als Vordenkerin vieler anderer, großer Autorinnen und Autoren gefeiert wird. Ein Jahr nach der Veröffentlichung der ersten beiden Bände ihrer Kopenhagen-Trilogie erschien im Jahr 1968 der Roman Gesichter im dänischen Original, welcher erst kürzlich nun endlich auch in deutscher Ausgabe durch den Aufbau Verlag veröffentlicht wurde. Der Roman mutet zunächst jedoch weniger biographisch an als die vorangegangenen, wenngleich Parallelen zum Leben der Autorin immer wieder wie Fährten gelegt werden, die man beim Lesen verfolgt und die damit auch eine wichtige Rolle zum Verständnis des Werks und seiner Autorin beitragen. Schauplatz des Romans ist über weite Teile eine Klinik, in die die Protagonistin Lise Mundus zu Beginn des fünften von insgesamt 16 Kapiteln gebracht wird, nachdem sie eine größere Menge Schlaftabletten zu sich genommen und dann ihren Arzt angerufen und darüber informiert hat, dass sie nicht sterben möchte. Vorher jedoch lebt Lise zusammen mit ihrem Mann Gert sowie ihren Kindern Hanne, Mogens und Søren ein komfortables Leben, welches vor allem Lises schriftstellerischem Erfolg als Kinderbuchautorin zu verdanken ist, der wenige Jahre zuvor durch den Kinderbuchpreis der dänischen Akademie einen Höhepunkt erreicht hat. Eine Folge dieser Berühmtheit ist auch die Hausangestellte Gitte, die sich nicht nur um die Kinder und den Haushalt kümmert, so dass Lise in Ruhe schreiben kann, sondern auch um Lises Mann, der ohnehin ein notorischer Fremdgänger zu sein scheint, sich von Lises Erfolg zurückgesetzt fühlt und daher gern mit seinen Eroberungen prahlt. Diese Ehekrise wird von einem fast noch größeren Problem überschattet, nämlich der Tatsache, dass Lise seit ihrem Erfolg vor zwei Jahren eine Schreibhemmung entwickelt hat. Dies ist für sie persönlich umso tragischer, da sie das Schreiben und die Möglichkeit sich dadurch auszudrücken, als ihr einziges Talent empfindet. Überhaupt kann sie ihren Erfolg aber nur schwer nachvollziehen: „[...]nachdem sie vor zwei Jahren den Kinderbuchpreis der dänischen Akademie für ein Buch erhalten hatte, das sie selbst nicht für besser oder schlechter hielt als ihre übrigen. Bis auf einen weitgehend unbeachteten Gedichtband hatte sie nie etwas anderes geschrieben als Kinderbücher. Auf den Damenseiten der Zeitungen waren sie anständig besprochen worden, hatten sich auch anständig verkauft und waren auf beruhigende Weise von jener Welt übersehen worden, die sich mit der Erwachsenenliteratur beschäftigte. Ihre Berühmtheit hatte brutal jenen Schleier weggerissen, der sie immer von der Wirklichkeit getrennt hatte.“ (S.9) Eine Passage die nicht nur auf die mangelnde Anerkennung anspielt, die Tove Ditlevsen selbst erleben musste, sondern auch auf eine elitäre Kritik generell, in der Literatur auf so genannten Damenseiten besprochen wurde, da sie einem höheren, literarischen Anspruch nicht zu genügen schien. Fast überflüssig zu erwähnen, dass die Jury der dänischen Akademie hauptsächlich von männlichen, sogenannten Modernisten besetzt wurde. Sich in dieser beklemmenden Situation befindent, entgleitet Lise Mundus allmählich ihr Alltag und mit ihm ihre Wahrnehmung. Während sie nachts Schlaftabletten braucht, um einschlafen zu können, hört sie tagsüber Stimmen in den Wasserrohren, die aus den anliegenden Wohnungen zu kommen scheinen. Auch als Lesende ist man zunächst noch unsicher, was ihrer Einbildung entspringt und was tatsächlich passiert. Tove Ditlevsen schafft es durch ihre Erzählerin an deren Innenleben teilzuhaben und gleichzeitig Außenstehender zu bleiben, wodurch Wahrheit und Fiktion nur noch schwer voneinander zu trennen sind. Erst als Lise aufgrund ihres vermeintlichen Selbstmordversuchs in die Klinik eingewiesen wird, wird deutlich, wie schwerwiegend ihre Psychose ist. In Pflegerinnen und Pflegern meint sie sowohl ihren Mann Gert als auch ihre Haushälterin Gitte zu erkennen und als sie in einer Art Badezimmer isoliert wird, weil sie die anderen Patientinnen zu sehr in Unruhe versetzt, hört sie in den Rohren und hinter Gittern nicht nur die Stimmen selbiger, sondern beispielsweise auch die ihrer Kinder. So namensgebend die Gesichter für den Roman sind, so wichtig sind sie auch in seiner Bedeutung für die Protagonistin. Sie erschienen mir die ganze Zeit auch eine Metapher zu sein, die beispielsweise für Selbstschutz und Angst gleichermaßen stehen kann. Indem sie den Pflegerinnen, also den Personen die um sie und ihre Gesundheit bemüht sind, ein Gesicht einer Person aufsetzt vor der sie sich fürchtet, offenbart sie ihre Furcht vor eben dieser Person. Genauso könnte man es als Schutz ansehen, um die Wirklichkeit nicht anerkennen zu müssen und damit das eigene Gesicht zu wahren oder selbst ein Gesicht aufzusetzen, um den Anderen etwas vorzumachen. Unübersehbar ist aber vor allem die zentrale Rolle des Schreibens im Roman. Einerseits für die Protagonistin Lise, die durch den Erfolg und der damit einhergehenden Bewertung durch andere, aber auch dadurch dass sie von anderen erkannt wird, zumindest gefühlt, ständiger Kritik ausgesetzt ist, die vor allem Zweifel in ihr hervorruft. Oft quält sie der Gedanke nicht gut genug zu sein und in der Klinik hört sie Stimmen, die ihr zuflüstern, dass sie nur Sätze bei anderen abschreibt und dann zu ihrem Text eigenen zusammenfügt. Letztlich ist es aber auch das Schreiben bzw. die Voraussicht wieder damit zu beginnen, die ihr neuen Lebensmut geben. Und da ist andererseits die Autorin Tove Ditlevsen selbst, deren größter Wunsch immer das Schreiben war, was vor allem in ihrer Kopenhagen Trilogie besonders deutlich wird. Auch weitere biographische Bezüge sind im Buch unübersehbar. Es sind nicht nur die komplizierten Liebesbeziehungen bzw. Ehen, oder dass der Mädchenname von Ditlevsens Mutter ebenfalls Mundus war, sondern auch ihre Medikamentensucht und ihre Suizidgedanken, die uns aus ihrem Roman förmlich entgegenspringen und es ist umso ironischer und tragischer, dass sich Tove Ditlevsen selbst durch eine Überdosis Schlaftabletten schließlich das Leben nahm. Nichtsdestotrotz sind die ernsten Themen des Romans und die teils surreale, verwirrende und beklemmende Atmosphäre kein Abschreckungsversuch oder ein Rückzug in eine Opferrolle, sondern eben die intensive Auseinandersetzung mit den eigenen Erfahrungen und Erlebnissen und der Wunsch sie literarisch zu verarbeiten, um dadurch noch etwas Gutes aus ihnen zu erschaffen. Es sind Themen, die sie als Autorin aber auch als Frau und Mutter beschäftigen und die sich in einer Welt, in der ein offenerer Umgang mit beispielsweise psychischen Erkrankungen oder Sucht einen neuen Raum finden und nicht wie Themen aus längst vergangener Zeit daher kommen. Sie offenbart eine weitere Facette ihres künstlerischen Schaffens und auch wenn Gesichter zunächst weniger autobiographisch anmutet als die Kopenhagen Trilogie, ist sie doch nicht weniger geprägt von ihrem eigenen Leben, ihrer poetischen und metaphernreichen Sprache und dem dringenden Wunsch, ihrem Innersten durch das Schreiben Ausdruck zu verleihen. Nathaniel Hawthorne schrieb einmal: „Denn kein Mensch kann für längere Zeit sich selbst das eine und der Menge ein anderes Gesicht zeigen, ohne am Ende in Verwirrung zu geraten, welches das echt ist.“ (aus: Der scharlachrote Buchstabe) This is a public episode. If you would like to discuss this with other subscribers or get access to bonus episodes, visit lobundverriss.substack.com
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Studio B Klassiker: N. K. Jemisin - The Broken Earth Trilogy
Studio B Klassiker: N. K. Jemisin - The Broken Earth Trilogy
Episode in Studio B
Da das gesamte Studio B - Kollektiv im April aus unterschiedlichen Gründen komplett eingespannt ist, wie man seit dem Feudalismus sagt, gibt es in diesem Wonnemonat jeweils einen “Klassiker”, also eine Rezension aus grauen Vorzeiten. Ab 23.4. 2023 geht es dann mit neuen Rezensionen weiter. Mit Preisen zurecht überhäuft hat N. K. Jemisin eine mittlerweile abgeschlossene Fantasy-Trilogie hingelegt, die Herr Falschgold im seligen Jahr 2019 so anriss: Dass sich die dem Genre namensgebenden Fantasien, die Träume, Hoffnungen oder wie in diesem Fall Ängste eineR 40-jährigen komplett von denen eineS 70-jährigen unterscheiden, liegt auf der Hand, und so beginnt der erste Band der Broken Earth Trilogie, nicht unterhalb einer gigantischen Mauer, auf deren anderen Seite das Böse lauert, sondern mit einem toten Kind. This is a public episode. If you would like to discuss this with other subscribers or get access to bonus episodes, visit lobundverriss.substack.com
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Die Diskussion: Markley, Moshfegh, Raybourn
Die Diskussion: Markley, Moshfegh, Raybourn
Episode in Studio B
Nicht die erbaulichsten Stories haben wir in den letzten drei Episoden des Studio B besprochen: Eine Geschichte vom Ende der Zivilisation, ein Märchen voller Ekligkeiten und Gewalt, und selbst die vermeintlich leichte Spystory spielt in einer Welt voller Ageism, Mysogenie und Nazis namens “Hier und heute”. Keine leichte Aufgabe, die Diskussion leicht und optimisitisch zu halten. Hoffnung gibt, dass alle Bücher fast von allen Beteiligten empfohlen werden. This is a public episode. If you would like to discuss this with other subscribers or get access to bonus episodes, visit lobundverriss.substack.com
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Deanna Raybourn: Killers of a Certain Age
Deanna Raybourn: Killers of a Certain Age
Episode in Studio B
Liebe Leserinnen, liebe Leser, der Frühling lässt weiter auf sich warten. Herr Falschgold hat mit Stephen Markleys "The Deluge" einen 900-Seiten-Endzeit-Brocken auf den Lesetisch geworfen. Anne Findeisen möchte uns an Ottessa Moshfeghs "Lapvona" heranführen, das in die tiefsten und abscheulichsten Abgründe des Menschen blickt und noch immer fällt draußen Schnee. Wir wünschen uns also alle etwas Eskapismus weg von diesen exzellenten, aber auch sehr viel Kraft fordernden Lektüren und voilá: leider nur in englisch erhältlich, aber in schnörkelloser und leichter Sprache verfasst, die man erfassen kann, wenn man die wichtigsten Schimpfwörter kennt: "Killers of a Certain Age" von Deanna Raybourn. A certain age ist ein Euphemismus der englischen Sprache, der anzeigen möchte, dass jemand nicht mehr jung ist. Verwendet wird er vorrangig für Frauen, wir erinnern uns, Männer werden nicht älter, sie reifen. Ha! Ein bestimmtes Alter, das also anzeigt, dass jemand die 40 überschritten hat, ist dem deutschen Euphemismus Junge Frau, der ausnahmslos Frauen verliehen wird, die jünger sind als man selbst, immer und unbedingt vorzuziehen. Warum, fragt ihr? Die alten Ladies freuen sich doch darüber? Nein. Sie haben sich morgens vorm Spiegel die Haare gekämmt und wissen ziemlich genau, wie sie aussehen und halten jeden, der sie so nennt, für einen Dummkopf. Immer, wirklich. Sie wissen nur, dass man bestimmte Diskussionen gar nicht erst anfangen muss und seine Zeit besser verschwenden kann, deshalb lachen sie höflich und denken sich ihren Teil.  Die Heldinnen Billie, Mary Alice, Helen und Natalie packen gerade ihre Sachen für eine all-inclusive Kreuzfahrt, die den Beginn ihrer Rente, finanziert als Dank von ihrem Arbeitgeber, markieren soll. Immerhin 40 Jahre waren sie im Dienste der Organisation Museum unterwegs. Und sind bezahlte Mörderinnen. Und auch noch stolz drauf. Denn die Welt ist eine schlechte, und es gibt böse Menschen. Jede kann sofort die Top 5 aufzählen, ohne die die Welt eine bessere werden könnte. Einst Ende der 1970er angeheuert, haben sie zunächst Nazis umgebracht, die sich nach für sie ruhigen Jahrzehnten in Sicherheit wähnten, machten dann mit Diktatoren, Sklavenhändlern und so weiter.  Schnell müssen sie erkennen, dass sie anstatt des verdienten Ruhestandes, dem sie mit einigem Bangen und auch schlechter Laune entgegenblicken, forciert das Zeitliche segnen sollen. In einem Kellner erkennen sie einen weiteren Killer ihrer Organisation, der mit vereinten Kräften um die Ecke gebracht wird und ihre drängendsten Fragen sind nun: Warum sollen sie umgebracht werden, und wer ist dafür verantwortlich? Es entwickelt sich eine aufregende Story an pittoresken Orten, die sich mit Rückblicken auf die Biographien der 4 Protagonistinnen und ihre Leben abwechseln. Ihre Arbeit war einst eine einsame, doch nun werden ihre Freundschaften, die während ihrer Ausbildung entstanden, zu ihrer Lebensversicherung. Trockene Witze, schnelle Dialoge, schwarzer Humor, skurrile Ereignisse, eine leichtfüßige Sprache, überraschende Wendungen, ein hübsches Feuerwerk, das Deanna Raybourn für unseren Eskapismus abbrennt. Was Billie, Marie Alice, Helen und Natalie entgegenkommt, ist zum einen die schon oft beschriebene zunehmende Unsichtbarkeit älterer Frauen, aber natürlich auch ihr jahrzehntelang angehäuftes Wissen und ihr Erfahrungsschatz. Deanna Raybourns "Killer of a Certain Age" ist beste Unterhaltung, die die Herausforderungen des Alters und der Gesellschaft nicht unerwähnt lässt, unerwartete Einsichten bereithält und hintenrum durch die Brust ins Auge trifft. This is a public episode. If you would like to discuss this with other subscribers or get access to bonus episodes, visit lobundverriss.substack.com
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Ottessa Moshfegh: Lapvona
Ottessa Moshfegh: Lapvona
Episode in Studio B
Die von mir so gefeierte amerikanische Autorin Ottessa Moshfegh, die 1981 in Boston geboren wurde und persisch-kroatischer Abstammung ist, ist eine Meisterin im Erzählen von Geschichten in denen es oft um menschliche Abgründigkeiten, Süchte, emotionale Störungen, aber auch den Wunsch nach einem besseren Leben, Anerkennung und Emanzipation geht. Diese Geschichten finden mitunter in ungewöhnlichen Settings statt, die auch als Allegorie auf das Erzählte verstanden werden können. In ihrem neuen Roman Lapvona, der bereits letztes Jahr im Original erschien und kürzlich, also Anfang 2023, auch endlich auf Deutsch durch den Hanser Verlag veröffentlicht wurde, bleibt sie sich treu und führt dem Lesenden einmal mehr die Ungeheuerlichkeiten ihrer Protagonisten vor Augen, deren Taten vor Abscheulichkeiten strotzen. Angesiedelt ist ihr Roman in der fiktiven – und wir vermuten mittelalterlichen – Stadt Lapvona, die gleichfalls titelgebend ist. Zeitlich umfasst die Handlung die Dauer von circa einem Jahr, wobei das Buch in Jahreszeiten gegliedert ist und mit dem Frühling beginnt und endet. Zunächst begegnen wir dem Protagonisten Marek, einem 13-Jährigen, der für sein Alter nicht nur zu klein ist, sondern auch als missgebildet und verwachsen beschrieben wird, mit „knallrote[m] Haar, das noch nie gebürstet oder geschnitten worden war“ (S.13) und seinem Vater, dem Lämmerhirten, Jude. Die beiden leben in einer bescheidenen Hütte auf der Weide und ihr Verhältnis zueinander ist vor allem durch Anteilnahmslosigkeit und Gewalt geprägt, wobei Marek die Schläge, die er durch seinen Vater erhält, als Zeichen seiner Liebe zu ihm deutet. Wohingegen Jude vor allem seine Lämmer liebt und es für ihn das Schlimmste ist, jedes Jahr einen Großteil von ihnen verkaufen zu müssen, die dann geschlachtet werden. Da Mareks Mutter Agata angeblich nach seiner Geburt gestorben ist, wurde dieser als Baby von Ina gestillt. Diese war früher einmal die Amme des Dorfes und hatte weder einen eigenen Mann noch Kinder, konnte aber Milch geben, weshalb sie das halbe Dorf genährt hatte und damit auch den Frauen und Familien half, die selbst dazu nicht in der Lage waren. Da sie außerdem blind ist, im Wald lebt und sich sehr gut mit Heilkräutern auskennt, wird sie deshalb mitunter auch als Hexe bezeichnet. Im Verlauf des Romans ist sie aber bereits sehr alt und ihre Milch längst versiegt. Im Gegensatz zu ihnen und den anderen Dorfbewohnern steht der Fürst namens Villiam, der auf seinem Schloss lebt und sich an der harten Arbeit seiner Untergebenen bereichert. Dabei wird er geradezu als Witzfigur beschrieben, der ständig unterhalten und belustigt werden will, sich dabei nicht sehr herrschaftlich benimmt und vom Herrschen zumindest so viel versteht, dass er die Dorfbewohner regelmäßig durch Räuber überfallen lässt und sie damit einschüchtert, damit sie nicht gegen ihn aufbegehren. Dabei wissen die Menschen im Dorf nicht, dass die Überfälle eine Inszenierung ihres Herrschers sind, um die Dorfbewohner klein zu halten. Während man Marek am Anfang vielleicht noch für den stillen Helden des Romans hält, dessen Leben sich noch zum Besseren wenden könnte, kommt es schließlich durchaus zu einer dramatischen Wendung. Nämlich als Marek mit Jacob, dem Sohn des Fürsten, auf einen Berg steigt, wo er schließlich einen Stein nach ihm wirft und so dessen Tod verursacht. Der Fürst, außerstande die Realität um den Tod seines Sohnes zu begreifen – denn sein ganzes Leben ist ja ein Theater, eine Inszenierung – fordert dafür, dass Marek an dessen Stelle treten und ins Schloss ziehen soll, um fortan als Villiams Sohn dort zu leben. Das dies, entgegen der Erwartung beim Lesen, keinen positiven Effekt auf Mareks Leben hat, sondern, im Gegenteil, noch seine schlechten Seiten zu Tage fördert, wird leider allzu schnell offensichtlich. Moshfeghs Roman strotzt nur so vor Abscheulichkeiten, die sich in einer endlosen Kette aneinanderreihen. Die Menschen sind voller Missgunst, Neid und Bösartigkeit ihren Mitmenschen gegenüber eingestellt und so hofft man vergebens auf einen Protagonisten oder eine Protagonistin, dem man sein Leserherz schenken kann. Selbst für die geschlagensten Figuren kann man kein Mitleid aufbringen, denn auch ihre niederen Gedanken werden einem schonungslos vor Augen geführt. Dabei scheint es für Ottessa Moshfegh kein Tabu zu geben, das unerwähnt bleiben darf. Es geht um Mord und Kannibalismus, Vergewaltigung und Pädophälie, Unterdrückung, Egoismus, Armut und Überfluss, um hier nur einige zu nennen. Während man in ihren vorangegangenen Romanen immer auch einen gewissen Witz im Grotesken und Überzogenen finden konnte, hat man bei Lapvona permanent das Gefühl, sich durch einen Sumpf an menschlichen Abgründen zu kämpfen, der kein Ende nehmen will. Dabei spielt auch die Religion immer wieder eine wichtige Rolle. Beispielsweise der Priester Barnabas, dessen Name schon ein Verweis auf seine Bedeutung in der christlichen Religion gibt, der aber im Roman gar keine Ahnung von seinem Amt hat und der an der Seite des Fürsten ein Leben führt, in dem ihm zumindest sein leibliches Wohl garantiert ist. Im Tausch des einen Sohnes für den anderen erkennen wir das Bibelzitat „Auge um Auge“, wobei es im Roman weniger eine Form der Vergeltung zu sein scheint, sondern für Jude eher eine Erleichterung darstellt und für Villiam Teil seines lächerlichen Schauspiels, welches sein Alltag geworden ist. Auch die Lämmer stehen im Allgemeinen für Unschuld und Reinheit, im christlichen Glaube ist das Osterlamm jedoch ein Symbol dafür, dass Jesus unschuldig für die Menschen gestorben ist. Während des langen Dürresommers sterben dann auch alle Lämmer, unschuldig scheint in Lapvona jedoch niemand zu sein. Dabei hat die Religion für jeden eine andere Bedeutung. Während Villiam und der Priester sie dazu nutzen, um die Dorfbewohner in Schach zu halten und Marek sich nichts sehnlicher wünscht, als eines Tages in den Himmel zu kommen, rechtfertigen die Bewohner Lavonas selbst ihr Leid mit ihrem Glauben. Auch das Übernatürliche und Mystische wird durch Ina und ihre Fähigkeiten thematisiert und somit ein breites Feld dessen geschaffen, was Religion für jeden einzelnen bedeutet und inwiefern sie das Leben zu verstehen helfen kann. „Vielleicht ist es das allergrößte Wunder, wenn Gott Gerechtigkeit walten lässt, ohne dass ein Mensch dafür einen Finger krumm zu machen braucht. Oder vielleicht ist es einfach Schicksal. Im Nachhinein hat alles einen Sinn. Ob wahr oder falsch, man muss sich für alles eine Erklärung zurechtlegen, um irgendwie durchs Leben zu kommen. Worin liegt also hier der Sinn?“ (S.317) Diese Frage, die der allwissende Erzähler kurz vor Schluss des Romans an den Lesenden selbst zu richten scheint, wirkt wie ein Leitmotiv des gesamten Romans, der durch diese Frage umso mehr einer Parabel gleicht. Ottessa Moshfegh spricht in ihrem Roman zahlreiche Themen wie Machtmissbrauch, Korruption, extreme klimatische Entwicklungen und deren Folgen oder auch Misshandlung und Vergewaltigung an, denen wir auch in unserer realen Welt gegenüber stehen. Dass sie die Handlung dabei in ein mittelalterliches Setting versetzt, verstehe ich als Hinweis darauf, dass sich auch in unserer Welt Gesellschaften rückschrittlich entwickeln. Die Grausamkeiten, überspitzten Darstellungen und die permanent aufeinander folgenden schockierenden Geschehnisse, mag der ein oder andere als Effekthascherei verstehen und ermüdend empfinden. Ich sehe sie jedoch als das Recht einer Autorin an, den Lesenden mit dem Übel der Welt zu konfrontieren und ihn dazu zu bringen, sich damit auseinanderzusetzen. Viele Erkenntnisse resultieren doch eher aus der Darstellung des Schockierendem denn des Schönem. Ottessa Moshfeghs neuer Roman ist auf jeden Fall eine Empfehlung, wenn auch keine leichte Kost. This is a public episode. If you would like to discuss this with other subscribers or get access to bonus episodes, visit lobundverriss.substack.com
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Die Diskussion: Tchaikovsky, Sukegawa, Clarke
Die Diskussion: Tchaikovsky, Sukegawa, Clarke
Episode in Studio B
Abgesehen davon, dass Herr Falschgold enorm stolz scheint herausgefunden zu haben, dass die rezensierten Werke der letzten Wochen (nahezu) die gleiche Anzahl an Seiten haben, spielen sie alle auf fremden und seltsamen Welten (wie einst “Der Plan” sang) Herr Falschgold gerät entsprechend in Erklärungsnöte re: Zeitreisen, Irmgard Lumpini in ein Labyrinth und Anne Findeisen nach Japan. This is a public episode. If you would like to discuss this with other subscribers or get access to bonus episodes, visit lobundverriss.substack.com
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Stephen Markley - The Deluge
Stephen Markley - The Deluge
Episode in Studio B
Der hier besprochene Roman “The Deluge” von Stephen Markley ist bisher nur in englisch erschienen und da er thematisch doch recht USA-spezifisch ist vermute ich wenig Interesse hiesiger Verlage, das wirklich brillante Werk zu übersetzen (obwohl das mit ein paar erklärenden Fußnoten ohne weiteres möglich wäre). Was ich aber vermute ist, dass sich ein Netflix/HBO/Disney findet, das Werk in einem Sechs- bis Sechzigteiler zu verfilmen. Wer sich Spannung und absolutes Nichtwissen über Plot und Ausgang auf diese unbestimmte Zukunft bewahren möchte, höre hier auf zu lesen und erinnere sich, wenn es soweit ist, an meine ausdrückliche Empfehlung dieses Buches. Selbiges gilt für diejenige, die es heute schon in Englisch lesen möchte. Für alle anderen hier die totale Spoilerung. Es muss. Das Genre “Ecothriller” ist inhaltsbedingt ein eher junges. Zwar hatte schon im Jahr 1824 kein anderer als Joseph “Fouriertransformation” Fourier berechnet, dass das zu dem Zeitpunkt gerade schwer im kommende Verbrennen von Kohle zwecks Erzeugung meist kinetischer Energie die Atmosphäre der Erde wohl thermisch negativ verändern werde, aber a) sah Monsieur Fourier das “in Jahrhunderten” und b) weiß man es hinterher immer besser. Das Problem ist: Das ist jetzt fast die Mehrzahl von “Jahrhundert” her und wir wissen spätestens seit Juli 1977 sehr genau, dass Herr F. recht hatte. Das heißt, nicht unbedingt “wir”, denn der Auftraggeber der Studie, die sehr eindeutig bestätigte, was Fourier damals nur vermutete, war der größte Ölproduzent der Welt und Exxon Mobile behielt die Ergebnisse erwartbar für sich. So ein Informationsembargo hält nicht ewig, weshalb wir am Ende doch alle davon erfuhren, dass wir den Planeten zu s**t verbrennen, wenn wir so weiter machen. Das war in den 1990ern und man erfuhr es nicht unbedingt von den Mahnern sondern, zwischen den Zeilen lesend, in ganzseitigen Anzeigen und Werbespots gegen die “Klimalügen” und von den seltsam immer gleichen Wissenschaftlern in Talkrunden und deren Gegenargumenten, die immer mit “Ja, aber..” begannen. Und wer “Ja, aber..” sagt hat, niemals recht! Wissen wir alle, aus der Zeit, als wir dem Nachbarskind die Luft aus dem Fahrradreifen gelassen haben. “Ja, aber.. der war auch ein Arschloch!” Nun war der Faschistenharry aus dem Nachbarhaus nichts gegen die Arschlöcher, die in eben diesen 90ern Lobbygruppen mit so harmlos euphemistischen Namen wie “Americans for Prosperity” oder “The Heartland Institute” mit Milliarden von Dollars ausstatten um den mittlerweile feststehenden Tatsachen, dass, wenn wir nicht sofort, also wirklich jetzt, gleich, now, aufhören Öl, Gas und Kohle zu verbrennen in ein paar Jahrzehnten auf einem anderen Planeten leben werden. Und damit war nicht der Mars gemeint, sondern ein Hellhole namens Erde, spätes 21. Jahrhundert. Wegen dieser Verbrecher hat sich wohl auch das Genresuffix Ecothriller eingebürgert, man findet leider keine Ecolovestories, auch wenn zumindest einer das natürlich versucht: Neal Stephenson in “Termination Shock”. Das Buch ist kaum eine Rezension wert und sei hier nur erwähnt. Stephenson ist bei diesem Buch komplett unter die Räder gekommen. Vielleicht war es Corona, vielleicht liegt Stephenson, dem Utopianer, die Dystopie nicht. Fakt ist, dass das Buch, bereits 2021 auf Englisch erschienen, bisher noch nicht mal einen deutschen Verleger gefunden hat und bei Amazon für knapp 3 € verramscht wird. Stephenson erzählt in einer nahen Zukunft ca. 2029 bis zur Hälfte des 700 Seiten dicken Buches ausführlich wie das politische System der, no s**t, Niederlande funktioniert, um den Rest des Buches eine technologische Lösung des Klimaproblems zu erfinden, deren einziger Nachteil ist, dass sie das Klima durch in die Atmosphäre schießen von Schwefel regional unterschiedlich verändert und es den Indern nicht wirklich gefallen wird, wenn der Monsun ausbleibt und die Böden vertrocknen, damit in China die Wiesen wieder grünen. Nicht ganz verständlich kämpfen deshalb Jugendliche an der Indisch-Chinesischen Grenze im Himalaya mit Stöcken gegeneinander und die niederländische Königin verliebt sich in… nein, das ist alles zu bekloppt: “Termination Shock” von Neal Stephenson ist kein gutes Buch und abzulehnen. Aber: Ecothriller sind auch schwer. Der Handlungsbogen muss ein langer sein und ein verworrener: wie uns die Kachelmänner dieser Welt immer wieder erklären, ist eine Flut, eine Schneelawine noch kein Klimawandel und manchmal eben doch, und bis wir alle daran störben kann es schon noch ein paar Jahrzehnte dauern - eine ziemliche Herausforderung für einen Thriller, der doch von überraschenden Wendungen, Mord, Totschlag und einem Happy End lebt. Vielleicht braucht es einen anderen Ansatz. Im Jahr 2016 habe ich für ebendiesen Podcast eine eher strange Buchreihe aus den US of A rezensiert: “Left Behind”, ein ganz unglaublicher Bestseller im Herkunftsland und hierzulande eher nicht so. Wird Dir doch “Finale - Die letzten Tage der Erde” beim “Amazon Unlimited” Ramschladen für 0 EUR hinterhergeworfen. Es ist ein ziemlich ewig langer Thriller über die unter Evangelikalen sehnlichst herbei gesehnte Apokalypse, bevor der Herrgott diese zu sich holt und uns Ungläubige und Sünder uns selbst überlässt. Das alles ist gut lesbar geschrieben, ein Pageturner wie der englisch sprechende Leser sagt und der deutsche immer noch nach Entsprechung sucht, ich bin davon nicht zum Christ geworden, es war alles ein bisschen zum Kopfschütteln und dennoch irgendwie schwer weglegbar und, nun ja, spannend! Wie man sich als Christ so vorstellt, wie die Welt endet, ist nun mal faszinierend, zumal, wenn man weiß, dass es einen nicht betrifft. An diese “Left Behind"-Serie fühlte ich mich erinnert, irgendwann zur Hälfte des vorliegenden Romans “The Deluge”. Das wird Stephen Markley, dem Autor, nicht gefallen, obwohl “The Deluge” betitelt, auf Deutsch übersetzbar mit “Überschwemmung”, “Sintflut” gar, ist es doch ein fundiert recherchierter Ecothriller und keine spinnerte Bibelverwurstung. Aber wir können nichts für unsere Gefühle, so, hear me out: Zum Zeitpunkt der deprimierenden Endzeitahnung sind wir 400 Seiten im Roman. Ja, “The Deluge” ist ein Brett, ein dickes. Aber ich bin gebannt, die pages turnen. Wir befinden uns im Buch mittlerweile im Jahr 2034, begonnen haben wir im Jahr 2013. Damals, drei Jahre vor Trump, hatte der fiktive Wissenschaftler Tony Pietrus erschütternde und unglaubliche Zahlen auf dem Tisch. Es geht um Methan, den Klimakiller unter den Klimakillergasen, CO2 schaut hier nur neidisch zu. Methan wird zum Beispiel frei, wenn man Erdgas verbrennt, wenn man als Kuh furzt und rülpst, es ist aber ebenso gebunden im arktischen Eis und auf dem Meeresgrund. Und zwar in Unmengen. Und seine Modelle zeigen ihm, was passiert, wenn sich die Erde erwärmt wie prognostiziert. Dass ab einer bestimmten Temperatur das gesamte gebundene Methan zusätzlich zu den üblichen Kuhfürzen frei wird und damit die Erde nochmal extra erwärmt, was zu einem noch schnelleren Abschmelzen der Polkappen führt und zu einem Anstieg des Meeresspiegels um nicht nur die eh schon ziemlich katastrophalen 1 - 1,5 Meter, die ja schon den Exitus für ein paar Städte bedeuten, für Miami zum Beispiel, oder New Orleans. Wenn dieser Kipppunkt also erreicht ist, steigt der Meeresspiegel um lockere fünf bis sechs Meter, was die USA mal eben so um ein Drittel ihrer Landfläche bringt. Und natürlich auch alle anderen Länder des Planeten, die sich auf festem Grund befinden. Alles auf den ersten 400 Seiten von “The Deluge” hat die Welt fast an diesen Punkt geführt, alles was ein fiktiver Wissenschaftler 2013 zu Papier brachte um damit als Spinner geächtet oder ignoriert zu werden, ist auf bestem Wege einzutreten, Schritt für Schritt, Punkt für Punkt, Unwetter für Flächenbrand, Flutkatastrophe für Fischsterben. Und es läuft fiktiv im Buch ziemlich genau wie im realen Leben - viele Worte wurden geäußert und noch viel mehr Bedenken, Initiativen wurden initiiert und mit viel “Ja, Aber…” wieder einkassiert. Endlich, endlich jedoch stehen sie auf, die Mahner, die jungen Leute, die sehen, wie ihre Zukunft verbrennt, ertrinkt, vergiftet wird und sie belagern die US-Amerikanische Hauptstadt, das Weiße Haus, das Capitol. Nicht nur ein bisschen occupy wall street ,sondern richtig occupy wall street, organisiert, originell, über Monate hinweg legen sie die US-amerikanische Hauptstadt lahm. Nichts geht mehr in Washington DC. Wir sind in der Hälfte des Buches angekommen und sind sehr sicher, dass uns Stephen Markley jetzt die erlösende Perspektive, ja, eine Handlungsanweisung, eine Anleitung gibt, wie wir das Ende der Menschheit, wenn auch spät, doch gerade noch so abwenden können, durch Solidarität, ein Ende der kapitalistischen Extraktionslogik und durch ein Konzentrieren auf das was nötig ist. Dass wir mal die Profitinteressen zurück stellen, das es nicht so schwer sein kann auf seine zweite Fünfhundertmeterjacht zu verzichten, Jeff. Dass man den Jet mal stehen lässt und Homeoffice macht, Elon. Doch, im August 2034 überzieht eine erneute Hitzewelle Washington DC, 47 ℃ im Schatten über Wochen, das hält kein Aktivist aus, schon gar nicht deren 50.000 - denn so viele sind es mindestens, die die Hauptstadt belagern. Die Besetzung löst sich auf, und als es nur noch ein paar Tausend Demonstranten sind, schickt der aktuelle US-Präsident, ein erwartbar korruptes Arschloch, sein privates Sicherheitsunternehmens rein und erschießt den Rest der Protestierenden. 736 Tote. Mitten in DC. Und mit diesen letzten Aufrechten stirbt die geforderte radikale Gesetzgebung, die letzte legislative Chance, nun doch endlich etwas gegen die mittlerweile katastrophale Erderwärmung zu tun, ja, die Menschheit zu retten. Haben wir uns bis hierhin im Buch noch wohlig gegruselt, erfahren wir jetzt, dass die dramatisch beschriebenen Katastrophen: Waldbrände, Stadtbrände (Das HOLLYWOOD sign brennt!), Fluten, die östlich vom Mississippi 200 Millionen Menschen betreffen, aber auch politische Katastrophen wie das immer wieder und wiederholte Scheitern von Klimalegislation, der Aufstieg von christlichen Fundamentalisten, die Ermordung von politischen Gegnern, dass all das nur den Spannungsbogen aufspannt und wir ahnen, dass er in der Katastrophe endet. Und dennoch sind wir noch nicht zu 100% entsetzt, denn wenn auch alles erschreckend plausibel klingt (weil es das ist) sind wir als Leser dennoch irgendwie sicher, dass das im realen Leben alles nicht so schnell gehen wird wie im Buch beschrieben. Diese zeitliche Verdichtung, diese Dystopie, macht der Markley doch nur, um die handelnden Personen zusammenzuhalten, man kann ja schlecht einen Ecothriller mit einem Handlungszeitraum von 150 Jahren schreiben. Mit ein bisschen wissenschaftlichem Augenzudrücken bekommt der Markley die Klimakatastrphoe also auf 30 Jahre runterkomprimiert, aber nie im Leben wird das in unserem, dem realen Leben so schnell gehen, das alles wissen wir, sind wir todsicher, und deshalb nehmen wir das Buch als Fabel, als Gleichnis, als Warnung. Das wird schon. Und dann wird fünfzig Prozent im Buch die letzte Chance auf ein Happy End zusammengeschossen und schonungslos beschrieben und wir wissen, das wird hier kein Wohlfühlroman mehr. Das wird hier ein Roman über die letzten Tage der Erde. Und uns wird ein bisschen schlecht. Was ist, wenn der Zeitrahmen im Buch doch stimmt? Wenn in 2035 wirklich der Südpol schmilzt, die Nordpolpassage ganzjährig frei ist. Wir leben doch aktuell im Jahr 2023, holy s**t, das sind ja nur noch 12 Jahre. S**t. Nun bin ich Hedonist, wenn es um Literatur geht. Ich muss keine Bücher darüber lesen, wie des Autors Katze vom Auto überfahren wurde, seine Freundin ihn verlässt und er zum Schluss an Darmkrebs stirbt. Trotzdem kann, ja, muss ich diesen düstersten aller dystopischen Romane so komplett und ohne Vorbehalt empfehlen. Wie hat Stephen Markley das geschafft? Durch schieres schriftstellerischen Vermögen. Das ist umso beeindruckender, da “The Deluge” erst Markleys zweiter Roman und das hier keine Novella, sondern ein ausgewachsenes Buch von 800 Seiten ist, das eine hochkomplexe Story über einen langen, langen Zeitraum beschreibt. Und ein wirklich deprimierendes Thema hat. Markley wirft uns zu Beginn des Buches mitten in ein Rekrutierungsgespräch. Eine mittzwanziger LatinaX hört sich in einem anonymen Fast Food Joint die Story eines dicken, prototypischen Redneck-Amis an. Der war in der Army, im Irak und in Afghanistan. Dort hat er IEDs, Minen und alles, was sonst noch Arme und Beine abreißt, entschärft. In zunächst leicht irritierenden, typographisch hervorgehobenen Einschüben bekommen wir Einblick in Fühlen, Denken, Geschichte und Lebensentwürfe der am Gespräch Beteiligten. Ich persönlich bin da nicht der größte Fan von, aber die Einschübe hier fesseln. Sie geben uns in kurzen Schüben ein Bild von dem, was zum Beispiel die US-Army heutzutage ist: Ein Auffangbecken für die Abgehängten, die, die es zu Hause nicht mehr aushalten, die es zu Hause nie schaffen werden und die sich aus ebendiesen ökonomischen und sozialen Zwängen in Situationen begeben, die scheisse-gefährlich sind. Dass das systemisch ist weiss man, aber Markley macht es plastisch. Wie abgefuckt muss eine Gesellschaft sein, Millionen von Menschen die Lebensgrundlage zu entziehen und ihnen dann den Ausweg “Army, Navy oder Marine?” zu geben. Das “Thank You for Your Service.” ohne Zynismus auszusprechen, braucht schauspielerische Leistung. Von solchen Schlaglichtern auf die US-Amerikanische Gesellschaft lebt das Buch, ja, ist das Buch. Wir lernen die Rekruiterin Shane kennen, sie wird die nächsten Jahre als überarbeitete Kellnerin, alleinerziehend mit Kind im Nirgendwo von New Hampshire leben. Allein diese Schilderungen des amerikanischen Alltags, mit nur 3,5% Arbeitslosenrate ohne dass jemals eine Fußnote dran wäre, die berichtet, dass ein großer Teil der amerikanischen Mindestlohn-Workforce zwei oder mehr Jobs arbeiten um über die Runden zu kommen, was schon wieder beschissen euphemistisch ist, denn sie machen das um zu überleben. Aber Shane macht das freiwillig, trotzdem sie monatlich Geld von einem anonymen Sponsor bekommt. Denn es ist eine Tarnung, deep cover im immer dichteren Überwachungsstaat USA, um aller Jahre Anschläge auf Kohlekraftwerke, Erdölpipelines und was sonst noch die Umwelt verschmutzt, zu begehen. Murdock, der Sprengstoffexperte, wird diese Anschläge materiell vorbereiten, zusammen mit einem Universitätsprofessor, einer Hackerin und einem Banker bilden sie die erste Zelle einer ökoterroristischen Vereinigung, die klar die RAF reminisziert. Jahrzehnte später, hunderte Seiten im Buch, wird Shane nach Virginia fahren, um Allen zu töten, einen der Mitbegründer. Er wollte aussteigen. Es wird der manifeste Verlust der Unschuld sein, die sie emotional und intellektuell schon lange verloren hat. Und sie wird nicht Allen töten. Das machen die erwartbar radikalisierten Mitglieder der zweiten Generation, denen das Credo vom bewaffneten Kampf ohne menschliche Opfer nicht mehr zu vermitteln ist. Aber sie werden übersehen haben, dass Allen einen zwölfjährigen Sohn hat, der bei ihm wohnt. Dieser türmt aus dem ersten Stock des Elternhauses, Shane verfolgt ihn, es gibt keine Alternative, ein Zeuge würde die gesamte, über Jahrzehnte aufgebaute Operation dem Untergang weihen. Die Welt wird untergehen ohne ihr Handeln. Er muss sterben. Shane rennt hinterher und weil sie noch nie eine Waffe auch nur gehalten hat, schießt sie dem Teenager aus versehen in den Bauch. Er schreit wie am Spieß. Und nochmal in den Bauch, und dann erst ins Gesicht. Es bricht uns das Herz. Von dieser Tragik sind die Geschichten in “The Deluge”. Markley schont uns nicht, denn das ist hier keine Wohlfühlstory mit Happy End, es ist das f*****g Ende der Welt. Wir werden noch viele mehr dieser Haupthelden kennenlernen. Markley malt ein Gemälde der USA zu Beginn des 21. Jahrhunderts bis zu deren absehbarem Ende im Jahr 2040. Wir lernen Matt kennen, in 2017 ist er ein Teenager, der sich in die sexy, freie, kluge und bald telegene radikale Aktivistin Kate verliebt und sie erst Jahrzehnte später erschöpft verlassen wird. Wir lernen “Keeper” kennen, einen anfangzwanzigjährigen abgehängten weißen Dude aus Ohio, dem Epizentrum des white trash in den USA, mit deindustrialisierten Kleinstädten, deren Industrie, deren Rohstoffextraktion nicht mehr gebraucht wird in einer globalisierten Welt. Wir werden ihn von Drogendeal zu Gefängnisstrafe, von Vergewaltigung (er) zu Vergewaltigung (ihn), von S**t zu S**t verfolgen. Wir werden ihn hassen und bedauern, er wird zu Gott finden und doch kein wirklich guter Mensch werden. Markleys Buch erzählt uns die Lebensgeschichten von einem halben Dutzend Haupthelden und einem weiteren halben Dutzend handelnder Personen und nimmt sich für jeden und jede soviel Zeit, wie es braucht, um ein Bild von deren Denken und Sein zu malen und von ihrem Handeln im Angesicht der Katastrophe. Jeder hätte ein eigenes Buch, einen eigenen Band verdient, so interessant, prototypisch für das finale amerikanische Jahrhundert sind sie. Die in langen Kapiteln erzählten Lebenswege kreuzen sich über die Jahrzehnte auf oft unerwartete Art und Weise, halb “Smoke”, halb “Pulp Fiction” oder besser: “Natural Born Killers”. So trifft Jackie, eine Designerin in der Werbeindustrie, erschöpft vom täglichen Anrennen gegen die glass ceiling, in jungen Jahren einen semi-berühmten TV-Schauspieler (ich hab Rob Lowe vorm Auge) um ihn ein Jahrzehnt später als ultrakonservativen VR-Prediger kaum wiederzuerkennen. Der wird später mit Mordaufrufen gegen alles, was kein Kreuz um den Hals hat, um ein Haar Präsident - wie das so passiert in den USA. Alle diese Stories und Lebenswege sind strange, gewalttätig, haarsträubend und im Kontext des US-amerikanischen Systems 100 % plausibel. Vor dem Horror eskalierender Umweltkatastrophen beschreibt Stephen Markley wie verschiedene Akteure verschiedene Ansätze wählen, das Ende der Welt abzuwenden. Politische pressure groups, selbstorganisierte Initiativen, Graswurzelbewegungen, politische Parteien, “Effektive Altruisten”, Ökoterroristen versuchen mehr oder weniger aufrecht den Klimawandel zu stoppen und scheitern am System, aneinander und daran, dass die Methanfelder auf dem Meeresgrund einen s**t geben, ob der Mehrheitsführer im US-Repräsentantenhaus es politisch für einen ungünstigen Zeitpunkt hält eine wirksame Klimagesetzgebung zu verabschieden. Dass die kontinentgroßen Eisschollen an Nord- und Südpol abbrechen und unbeeindruckt in den respektiven Polarmeeren schmelzen, als es menschlich zwar komplett verständlich ist, dass die Klima-RAF nicht mehr an den parlamentarischen Weg glaubt und genau in dem Augenblick aus Versehen die ersten Menschen bei einem Anschlag umkommen, als die Klimagesetzgebung endlich auf dem Weg, ist Realität zu werden. Und dass die Wasservorräte in weiten Teilen der Welt auch dann verdunsten, wenn in Europa, getrieben von der durch Wasserknappheit verursachten Migrationsbewegung, wieder Faschisten an die Macht kommen. Geführt übrigens von einem gewissen Anders Breivik aus Norwegen, gerade aus dem liberalsten Gefängnissystem der Welt entlassen. Und so stehen wir am Ende des Buches betroffen vor dem Scherbenhaufen unserer (ok, hier speziell und vornehmlich der US-amerikanischen) systemischen Unfähigkeit, ein paar Jahre in die Zukunft zu schauen und zusammenzuarbeiten. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass Stephen Markley zu Beginn des Buches noch nicht wusste, wie es endet. Dass er unsicher war, ob er der Story ein Happy End oder wenigstens einen unklaren Ritt in den waldbrandroten Sonnenuntergang geben wird. Ich habe das Gefühl, dass Markley bei der Recherche während des Schreibens so deprimiert und aussichtslos wurde, wie es uns geht, wenn wir sein Buch lesen und dass er es nicht fertig gebracht hat, uns zu belügen. Aber was machen wir jetzt mit dieser Aussichtslosigkeit? Nun, so eine Klimakatastrophe ist ja kein Atomschlag, einmal kurz zu hell, dann auf ewig dunkel. Da kommen schon noch ein paar Jahre auf uns zu, in denen es zu feucht, zu trocken, zu heiß ist, mit zu wenig Wasser, nicht genug zu futtern und dann dem falschen. Mit den resultierenden Fluchtbewegungen, physisch vom Heißen ins geradeso nicht so Heiße, vom Trockenen ins Nasse und den mentalen Fluchtbewegungen, von der Gier zur Not zur “Beschaffungskriminalität”, von der Verzweiflung vor dem Elend zum Crystal-Meth-Bliss und dem, was das alles für Deine zweijährige Tochter bedeutet. All diese Dinge sind kaum mehr zu verhindern, aber man kann sie gemeinsam entschärfen, durchleben und vollenden. Hauptwort: gemeinsam. In den finalen Zügen der Umweltkatastrophe im Buch, in denen selbst in den USA der Weizen, der Mais knapp wird wegen Monokultur, zu viel oder zu wenig Wasser, hat eine gar nicht so kleine Anzahl von Kommunen wundersamerweise Obst, Gemüse, Milch und was der Mensch sonst noch so gerne auf dem Frühstückstisch hat. Das sind Kommunen, die entstanden sind, als die Klimakatastrophe in noch Jahre entfernten Horizonten schimmerte und die akuten Probleme in Ohio, Alabama oder New Mexico “soziale Armut”, “Beschaffungskriminalität” und “Kapitalismusdreck” hießen, und schon zu dieser Zeit, irgendwie, sagen wir im Februar 2023, schlossen Leute sich zusammen, besorgten irgendwoher Geld und boten den Abgehängten genau dort, wo sie abgehangen hingen, Lösungen an. Entzugskliniken, gemeinsames Arbeiten für ein gemeinsames Ziel und wenn es nur ein Maisfeld ist, und ein Bier am Abend, wenn die Einsamkeit am größten. Kein Mensch muss da auf die Katastrophen re: Klima warten, die dafür geeigneten gesellschaftlichen sind schon lange da. Und mit dieser Erkenntnis hat mich das Buch auch radikalisiert. Eine Hauptheldin ragt immer ein bisschen über die anderen heraus: Kate. Eine radikale Feministin, die einen s**t gibt auf Konventionen, politische, gesellschaftliche, sexuell, ein anarchischer Firebrand, die der Realität der schwindenen Chancen, das Ende zu verhindern, ins Gesicht schaut und sich (und anderen) sagt: “So what, deshalb muss man ja nicht aufhören!” Deshalb kann man das System und in ihrer Personifizierung, die f****r, die das alles verursacht haben mit ihrer Gier, ihrer Dummheit, daran erinnern, dass sie nicht allein sind auf der Welt. Absurde Gestalten wie Friedrich Merz, die sich über Jahre ihre Pension beim größten Investmentverein der Welt, und damit zwangsläufig dem größte Klimakiller ebendieser, verdient haben und jetzt am Rednerpult des Bundestags wie ein Klempner aus Heidenau reden, wie jemand, der es nicht besser weiß? Warum soll der nicht jeden morgen keine Luft im Reifen haben? Und Katrin Göring-Eckardt, die es offensichtlich nicht besser weiß und sich dennoch bis zur Vize-Bundestagspräsidentin hochgepeterprinzipt hat - warum soll die nicht jeden Tag aufs neue, von immer einer anderen Mindestlohnbarista in jedes mal einer anderen 7-EUR-Kaffeebar alten Kefir statt Sojamilch in den Latte bekommen? Dafür gibt’s doch Whatsappgruppen? Und wo anfangen mit dem Unsinn, dem man Schwachmaten wie Christian Lindner antun kann, damit sie merken, dass sie keiner, wirklich keiner je leiden konnte? Rettet das die Erde? Nein. Beschleunigen wir damit das Endstadium des Kapitalismus? Das schaffen die f****r ohne uns. Ist es besser, als sich totzuscrollen und dumm zu tweeten? Allemal. Und für diese Erkenntnis braucht man keine 800 Seiten “The Deluge” von Stephen Markley lesen, aber es schadet nicht und es macht ganz unglaublich Blutdruck und es macht damit die Arterien frei, den Kopf und damit einen selbst. Deshalb sollte man das Ding lesen. Es ist brillant. This is a public episode. If you would like to discuss this with other subscribers or get access to bonus episodes, visit lobundverriss.substack.com
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Susanna Clarke: Piranesi
Susanna Clarke: Piranesi
Episode in Studio B
Ein Tagebuch zeigt uns die Welt, in der Piranesi lebt, wie er lebt, was er sieht, was er fühlt, die Fragen, die er sich stellt. Vorangestellt sind 2 Zitate: Das Erste: “Ich bin der große Gelehrte, der das Experiment durchführt. Natürlich brauche ich Versuchspersonen, an denen ich es durchführen kann.” Es ist C. S. Lewis Prequel “The Magician’s Nephew” der Reihe “Die Chroniken von Narnia” entnommen, das auf andere Welten verweist. Das 2. Zitat, ungleich länger, wird  Laurence Arne-Syles zugeschrieben, der in einem Interview in The Secret Garden, veröffentlicht im Mai 1976, unter anderem sagt: “Man nennt mich Philosoph oder Wissenschaftler oder Anthropologe. Ich bin nichts davon. Ich bin Anamnesiologe. Ich erforsche, was vergessen wurde. Ich erspüre, was ganz und gar verschwunden ist. Ich arbeite mit Abwesenheiten, mit Lautlosigkeiten, mit merkwürdigen Lücken zwischen Dingen. Eigentlich bin ich mehr Zauberer als alles andere.” Laurence Arne-Syles, der sich mit den vergessenen Dingen beschäftigt, mit Leerstellen, von denen unsere Welt voll bzw. leer ist, wurde nicht vergessen (nur falls die Frage auftaucht, ob man ihn kennen sollte). Er ist eine Erfindung der Autorin Susanna Clarke, vielleicht auch eine Erinnerung, die verloren gegangen ist? Titelheld Piranesi, der ziemlich sicher ist, dass er nicht Piranesi heißt, sich aber nicht erinnern kann, wie er einst genannt wurde, lebt in einer seltsamen Welt. Wir lernen sie durch die detailreichen und präzise formulierten Tagebucheinträge Piranesis kennen, aus denen das Werk besteht. Ein erster Anhaltspunkt, dass Piranesis Welt nicht die unsere ist, oder doch zumindest verschieden, ist die seltsame Datierung seiner Einträge: Es gibt Tage und Monate, aber das Jahr ist “ das Jahr, in dem der Albatros in die südwestlichen Hallen kam.” Piranesi lebt in einem großen, unendlichen Haus, dass aus so vielen Hallen besteht, dass er zwar eine Vielzahl bereist, jedoch - in keiner Richtung - je das Ende erreicht hat und das aus drei Ebenen besteht: in der untersten sind tiefe Gewässer, Ozeane, die Ebbe und Flut unterworfen sind. In der obersten funkeln des nachts die Gestirne und ziehen tagsüber Wolken. Auf der mittleren Ebene finden sich zahllose Räume unterschiedlichster Größe und Beschaffenheit, denen eins gemein ist: sie sind von zahllosen Mamorplastiken bevölkert, die unterschiedlichste Formen, Menschen und Fabelwesen zeigen, einige scheinen neuer zu sein als andere, sie bilden unterschiedliche Gefühle, Handlungen und Situationen, reale Natursituationen und mystische Begebenheiten ab. In den Tiefen der Ozeane leben Fische, und Vögel begleiten Piranesi. Das Haus versorgt ihn, er fühlt sich geborgen und - er hat keine Wünsche. Er zeichnet gewissenhaft die Gezeiten auf, um gefährliche Fluten vorherzusagen. Bevor diese kommen, bringt er seine wenigen Habseligkeiten, zu denen seine Aufzeichnungen gehören, in einer Tasche in höhere Gefilde in Sicherheit. Er isst Fisch und nutzt getrockneten Seetang als Feuermaterial. Sein frugaler Lebensstil fordert von ihm Planung und Umsicht. In seinen Aufzeichnungen versucht Piranesi, die Plastiken des Hauses in ihrer Vollständigkeit zu beschreiben, ein Ziel, dass unmöglich zu erreichen scheint. Verzweiflung oder Ängste finden sich nicht in den Tagebucheintragungen. Zweimal in der Woche trifft er sich mit dem Anderen, dessen Kleidung Piranesi als elegant beschreibt und den er als ungefähr 20 Jahre älter schätzt. Der Andere besitzt Sachen, die sich nicht im Haus finden und schenkt Piranesi ab und zu hilfreiche Dinge wie feste Schuhe und einen Schlafsack. Die Frage nach der Herkunft dieser Dinge kommt Piranesi nicht in den Sinn. Piranesi assistiert - so seine Annahme - dem Anderen bei einem andauernden Experiment und unternimmt dafür Reisen in weiter entfernte Räume. Das Ziel des Anderen kennt er nicht. Brüche und Spalten in Piranesis zufriedener Existenz erscheinen, wenn er auf Widersprüche stößt: so scheint er schon immer im Haus zu leben, kann sich aber nur an die letzten 5 Jahre erinnern. Die Wahrnehmung des Hauses durch Piranesi und den Anderen ist grundsätzlich verschieden: dem Anderen erscheint es als Labyrinth, als potentiell gefährlich, ein Ort, dessen Geheimnisse er mithilfe von Piranesi entschlüsseln und dadurch Macht gewinnen will. Ihr erinnert euch: Wissen ist Macht. Während Piranesi sich instinktiv im Haus bewegt und geborgen fühlt, kann der Andere das Haus nur durch die Beobachtungen Piranesis verstehen bzw. den Versuch unternehmen, es über ihn zu verstehen. Unsere Zweifel an Piranesis Einschätzungen, die allein durch seine Tagebucheinträge vermittelt werden, nehmen zu. Er erscheint in seinem Urvertrauen und seiner Gelassenheit kindhaft. Seine Zufriedenheit scheint seltsam, wissen wir doch um die Bedeutung zwischenmenschlicher Beziehungen und Erkenntnis, aber wie definieren und bestimmen wir diese?  Die Abwesenheit anderer Menschen scheint Piranesi nicht zu berühren oder zu beunruhigen. Auf seinen Wanderungen hat er die Skelette 13 anderer gefunden. Er bringt diese an von den Fluten unerreichbare Höhen und schenkt ihnen Blumen.  Die Selbstgenügsamkeit seiner Isolation weckt Erinnerungen an die Zeit unserer Zwangsisolationen, das Werk wurde jedoch weit vor der Pandemie begonnen. Piranesi zeigt, dass Alleinsein und Einsamkeit sehr unterschiedliche Gefühle sind. Seine Begegnung der Welt des Hauses gegenüber kann für das Ideal der Romantik gelesen werden, dass es der Sinn des Lebens ist, in tiefer Verbindung mit der Natur zu leben, sich bewusst zu sein, Teil eines größeren Ganzen zu sein, neben Tieren, Pflanzen, anstatt sich die Natur untertan zu machen und sich mit ihrer Zerstörung selbst zu zerstören. Beispielhaft für Piranesis Verbundenheit mit der Natur steht seine Begegnung mit dem Albatros, die ihm so wichtig erscheint, dass er das Jahr nach diesem Ereignis benannt. Der Albatros ist ein mystischer Vogel, derjenige mit der größten Flügelspannweite, die bis zu 3,50 Meter betragen kann, und er kann mehrere hundert Kilometer durch die Lüfte gleiten, ohne mit den Flügeln zu schlagen. Als Piranesi das erste Mal auf den Albatros trifft, glaubt er eine Vision zu haben, als dieser versucht zu landen. Piranesi handelt, wie er es immer tut: Er umarmt die Natur und ihre Bewohner mit offenen Armen. Beide verlieren ihr Gleichgewicht, erholen sich, und Piranesi gibt dem Albatros und seinem Gefährten Seetang, damit sie sich für ihre Brut ein Nest bauen können. Zunehmend wird unser Protagonist durch seine Aufzeichnungen, Träume, Erinnerungen und Unstimmigkeiten in diesen auf Missverhältnisse zwischen seinen Annahmen über die Welt des Hauses selbst aufmerksam. Später wird sich das Werk von den beschreibenden Tagebucheinträgen zu einem Thriller hin entwickeln, der nach Identität, dem Umgang mit dem Leben und den Lebenden fragt und neben den Gefühlen der vollkommenen Zufriedenheit in den Schatten den Horror der Anderen beiläufig und dann gar nicht mehr beiläufig erahnen lässt. Der Name Piranesi verweist auch auf einen Graveur, der eine Serie über imaginierte Gefängnisse schuf. Und er versaute Goethe den Besuch Roms: dieser war von den Veduten Piranesis zu Rom so hingerissen, dass er die Realität enttäuschend fand. Und so ergeht es uns bei der Lektüre: imaginierte Grandezza, die vor Grausamkeiten liegt. Und die Frage nicht beantwortet, ob es vorzuziehen ist, die zugrundeliegenden Wahrheiten zu kennen oder im Frieden mit den Verhältnissen zu leben. This is a public episode. If you would like to discuss this with other subscribers or get access to bonus episodes, visit lobundverriss.substack.com
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Durian Sukegawa - Die Katzen von Shinjuku
Durian Sukegawa - Die Katzen von Shinjuku
Episode in Studio B
Durian Sukegawa, der in Japan nicht nur Romane und Gedichte schreibt, sondern auch als Schauspieler, Punkmusiker und Fernseh- sowie Radiomoderator bekannt ist, gelang mit Kirschblüten und rote Bohnen in seiner Heimat ein Bestseller, welcher von Naomi Kawase für die Filmfestspiele in Cannes verfilmt wurde. Zufällig stieß ich auf sein jüngstes Werk Die Katzen von Shinjuku, welches 2021 im Dumont Verlag auf deutsch veröffentlicht wurde und entschied mich kurzerhand mein Rezensionsjahr so fortzusetzen, wie ich es begonnen habe und mich erneut der Besprechung japanischer Literatur zu widmen. Mitte der 1980er Jahre begann in Japan die so genannte Bubble Economy, eine Volkswirtschaft bei der am Aktien- und Immobilienmarkt spekuliert wurde und die kurzfristig von der Spekulationsblase profitierte, nach Platzen selbiger aber zu wirtschaftlichen Rückschlägen führte. Genau in dieser Zeit siedelt Durian Sukegawa seine Geschichte im tokioter Stadtviertel Shinjuku an, das unter anderem für seine unzähligen Bars und Kneipen bekannt ist, zu denen man am Abend durch ein Meer von Lichtern und Menschen gelangen kann. Einer seiner Protagonisten ist Yama, der 27-jährige Ich-Erzähler und ein Mann, dessen eigentlicher Traum es ist, kreativ zu arbeiten, Drehbücher zu schreiben und bei Film- und Fernsehproduktionen unterzukommen. Als es schließlich jedoch um Bewerbungen bei Fernsehen und Verlagen geht, muss er schockiert feststellen, dass diese vor allem eins eint, nämlich der Satz: „Farbfehlsichtige sind vom Eignungstest ausgeschlossen“, was für Yama als Farbenblinden einer Katastrophe gleich kommt. Er selbst hatte die Sache folgendermaßen eingeschätzt: „Tatsächlich hieß es, dass jede fünfhundertste Japanerin und jeder zwanzigste Japaner eine solche Farbschwäche hätten. Deshalb hatte ich die Sache unterschätzt. Da Farbschwäche bei uns Jungen so häufig vorkam, hielt ich diese Beeinträchtigung für harmlos.“ (S. 23) Nachdem er sich eine Weile mit Aushilfsjobs über Wasser hält, findet er zwar einen Mentor – einen viel beschäftigten Autor für Fernsehshows – der ihm eine Chance gibt, doch ist die Arbeit für ihn mehr als unbefriedigend, da sie vor allem aus Laufburschen Tätigkeiten oder dem Erarbeiten von Unmengen an Quizfragen für eine TV Sendung besteht. Gleichzeitig hat sein Mentor Nagasawa ein Aggressionsproblem und wird Yama gegenüber nicht nur verbal ausfällig, sondern schlägt ihn auch. Eine weitere Protagonistin ist Yume, eine junge Frau Anfang 20, die als zurückhaltend und eher wortkarg beschrieben wird und in Shinjuku in einer kleinen Bar namens Karinka als Kellnerin und Köchin arbeitet. In dieser winzigen und schlauchförmigen Bar treffen Yama und Yume auch das erste Mal aufeinander. Doch was Yama zunächst viel mehr an der Bar interessiert, sind nicht nur die unterschiedlichsten Menschen und schrägen Vögel, die sie aufsuchen, sondern ein Spiel, welches bei den Gästen sehr beliebt ist. Es nennt sich Miau Jongg. An einem in die Rückwand der Küche eingelassenen Fenster, welches auf die Betonumfriedung und die Rückwand des Nachbargebäudes zeigt, lassen sich regelmäßig die unterschiedlichsten Katzen blicken. Zu erraten, welche als nächstes erscheinen wird, ist der Sinn des Spiels und weckt bei den Gästen helle Begeisterung. Um die Katzen, die selbstverständlich alle Namen tragen, zu unterscheiden, hängt ein von Yume eigens gezeichneter Katzenplan am Kühlschrank, der vor allem für Yama besonders faszinierend ist und der gleich bemerkt, dass es mit den Katzen noch mehr auf sich haben muss. Soweit zum Setting, in dem Yama und Yume leben und sich kennen lernen. Beide sind letztlich Außenseiter, aber während wir über Yumes Lebensumstände lange Zeit wenig erfahren, wird bei Yama schnell klar – so beschreibt er es letztlich auch selbst – dass er kein Gewinner des Wirtschaftsbooms ist. Aber Sukegawas Kritik reicht über diesen Punkt hinaus, sondern verdeutlicht uns ja bereits am Anfang des Romans, dass Yama aufgrund seiner Rot-Grün-Blindheit in vielen Bereichen diskriminiert wird, was schließlich für ihn zur Folge hat, dass er sich widrigstens Arbeitsbedienungen beugen muss, bis hin zu einem tyrannischen Chef, um sich doch noch in dem Bereich zu etablieren, der seinen beruflichen Wünschen entspricht. Was er wirklich denkt, hält er dabei seinem Chef gegenüber lange zurück und verhält sich so, wie es von ihm erwartet wird – dankbar und unterwürfig. Durch das Karinka erfährt Yamas trostlose Geschichte jedoch schließlich eine Wendung. Zum Einen beginnt sich ganz langsam eine Beziehung zwischen Yume und Yama zu entwickeln, in Folge derer sie ihm auch zeigt, dass die Katzen in einem geschlossenen und baufälligen Love Hotel ihren Unterschlupf haben, in dem es auch zu einer Annäherung zwischen den beiden kommt. Zum Anderen motiviert sie ihn, sich nicht alles gefallen zu lassen und Kunst nicht mehr als Massenware zu begreifen, sondern als etwas, das für den Einzelnen gemacht wird. Tragischerweise endet die fragile Liebesbeziehung zwischen Yama und Yume bevor sie richtig beginnt, wodurch uns Durian Sukegawa aber einen Blick in Yumes Vergangenheit gewährt, die leider auch durch sexuelle Gewalt geprägt ist. Als sie sich beispielsweise bei einem Vergewaltigungsversuch gegen ihren Peiniger zur Wehr setzt, wird sie von diesem wegen Körperverletzung angezeigt. Sukegawa thematisiert an dieser Stelle das lange gültige, aber veraltete und restriktive Sexualstrafrecht, welches erst 2017 reformiert wurde und damit die Strafverfolgung erleichtert. Dennoch beeinflusst Yumes Vergangenheit ihr Handeln in der Gegenwart, was auch den Fortgang der Geschichte maßgeblich bestimmt. Die Katzen von Shinjuku sind letztlich eine Metapher für die Menschen, über die Sukegawa in seinem Roman schreibt. Es sind nicht nur Yume und Yama, die sich vorsichtig beschnuppern, es sind auch all die anderen Gäste im Karinka, die vorbei streunen, wenn es ihnen passt und die Menschen in Shinjuku überhaupt, die kommen und gehen und wo man nie weiß, wer wo auftauchen wird. Die Bar fungiert dabei als Sammelbecken für die unterschiedlichsten und auch skurrilsten Persönlichkeiten, die hier ihre Daseinsberechtigung haben. Letztlich lässt Sukegawa seine Protagonisten aber ein tröstliches Ende finden, was neben all der von ihm aufgeworfenen Kritik nicht selbstverständlich ist und die Hoffnung in sich birgt, dass widrige Umstände überwunden werden können. This is a public episode. If you would like to discuss this with other subscribers or get access to bonus episodes, visit lobundverriss.substack.com
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Winterlong - Steven Savile und Steve Lockley und One Day All This Will Be Yours - Adrian Tchaikovsky
Winterlong - Steven Savile und Steve Lockley und One Day All This Will Be Yours - Adrian Tchaikovsky
Episode in Studio B
Der Winter ist die Zeit dicke, lange Bücher zu lesen, sagte Herr Falschgold, wie er da saß, in seinem Ohrensessel. Oder war es der Sommer, um fette Bücher zu verschlingen, an ewig langen Tagen, am Strand? Oder der Herbst, wenn die Abende immer früher beginnen und es erlauben, das Glas erschreckend zeitig unter den sorgsam im Bücherregal eingebauten Kanister Roten zu halten? Es ist natürlich der Winter, und die Bücher sind dick und der Leser erwartet mit Recht die Rezension eines dieser Monsterwerke, eines Pynchon, eines Wallace, ein Ulysses gar! Da gibt es nur ein Problem: dicke, schwere, ok, selbst dicke, leichte Bücher sind lang und deren zwei liegen zur Zeit parallel auf dem Nachttisch (Ok, machen wir uns nichts vor: dem Kindle). Von einem würde ich sehr gerne berichten, aber das ist noch nicht möglich, Verschwiegenheit, nicht jinxen und so, das zweite ist noch im Verzehr und da man, ok, ich, dicke Werke nicht ununterbrochen und am Stück lesen kann, snacke ich zwischendurch leichtere Kost. Nein, keine Kurzgeschichten: diese Autorenonanie auf Kosten des Lesers, tolle Ideen, wo der Autorin der Atem fehlt und die Leserin präklimakterisch unbefriedigt zurück gelassen wird, kommen mir nicht auf den Reader (und natürlich ist diese Einstellung falsch und egoistisch aber I don’t care). Egal, es gibt etwas zwischen Ulysses und Bukowski: die Novelle. Sie ist mittig platziert zwischen der offenbar spätkapitalistisch standardisierten Seitenanzahl von 365 für einen “richtigen” Roman, also irgendwas in Serie: Child, Osman, Connelly und den 30 Seiten oder was auch immer ein atemloser Autor schafft um seine brillante Idee in einer Kurzgeschichte zu verwursten. (Ich höre ja schon auf). Irgendwas zwischen 100 und 200 Seiten will der Verleger einer Novelle sehen, gerade genug um eine Idee satt zu behandeln und leserseitig gesehen genau so lang, das Ding, mit ein bisschen Weg zur und von der Arbeit und mal nicht bis in die Puppen Netflix glotzen, an einem Tag durchzureißen, was ein interessantes Leseerlebnis verschafft. Es erinnert an das Bingewatching von Miniserien. Man braucht ein bisschen Atem, aber wird an nur einem Tag belohnt mit einem abgeschlossenen Leben, einem kompletten Kriegsverlauf, einem Doppelmord und deren Aufklärung, was, machen wir uns nichts vor, in Zeiten von minimaler Aufmerksamkeitsspanne und Gamification von allem und jedem, ein brrrr.. “Erfolgserlebnis” garantiert. In Deutschland, gefühlt seit Arnold Zweig, aus der Mode, erlebte die Gattung im Englischen vor allem in den Bereichen Fantasy und Science Fiction eine Renaissance, was deutsche Verlage leider kalt gegenüber diesen zu kleinen Edelsteinen komprimierten Werken lässt. Das Einzige, womit man hierzulande in der hier benutzten Sprache mit Werken dieser Länge Geld verdienen kann, sind wohl Groschenromane. Damit sich das ändert, seien hier also zwei wirklich brillante Kleinode für den Leser mit machbaren Englischkenntnissen vorgestellt, vielleicht schaut ja mal ein Verlag in die Amazon-Bestsellerliste “Englischsprachig, Käufer aus Deutschland” und ein Spike erscheint, wie ein Wunder, am 29.1.2023. Gekauft wurde: “Winterlong” von Steven Savile und Steve Lockley und “One Day All This Will Be Yours” von Adrian Tchaikovsky. “Warum?”, fragen sich die Verlage. Wegen Studio B? Haha. Nein, weil es wirklich tolle Bücher sind. Beide sind brillant in Idee wie Ausführung und so kurz, 100 bzw. 120 Seiten, dass es kaum lohnt, die beiderbüchig überraschende Handlung zu spoilern. Deshalb hier nur das Setting. Der finanzielle Verlust, wenn es nicht gefällt, berechnet sich in minimalen Eurobeträgen, der Anteil verlorener Lebenszeit in Millionstel. Ok, das Setting vom passend zum Rezensionserscheinungstermin benannten “Winterlong” ist ein beängstigend wiederkehrendes. Zumindest in meinem Rezensentenalltag sind wir nicht zum ersten Mal in England. In einem Altersheim. (Was will mir das Schicksal sagen?) Es liest sich tatsächlich wie der “Thursday Murder Club”. Ein ziemlich alter Ganove sitzt jetzt gemütlich in einem privaten Altersheim. Wie wir lernen, war er ein nicht zimperlicher Geldeintreiber, damals, im aktiven Berufsleben. Er macht gerade einem Sohn, zu Besuch bei seiner Mutter, klar, dass es eine schlechte, eine ganz schlechte Idee, sei, diese in ein anderes Heim umzusiedeln, um Geld zu sparen. Also für den Sohn persönlich, wir verstehen uns?! Währenddessen um ihn herum die Betreiberin des Heimes sich Sorgen macht um ihren Mann draußen im Gewächshaus weil es zu schneien beginnt, die dicke faule Schwester noch nicht Dienstschluss hat aber wie immer zu zeitig geht, weil, es beginnt zu schneien und die fleißige und warmherzige ukrainische Schwester eher kommt, weil es zu schneien begonnen hat und sie Angst hat, steckenzubleiben - hatte ich erwähnt, dass es zu schneien begonnen hat? Wir wissen nicht genau was, aber irgendwas stimmt nicht. Obwohl alles völlig normaler Stress im Altersheim ist, stimmt irgendwas nicht. Ach genau. Es schneit. Wie Sau. Ganz unheimlich. In England. Das Setting in der, jetzt fällt es mir auf, fast altersheimgerecht benannten zweiten zu empfehlenden Novella “One Day All This Will Be Yours” könnte nicht gegensätzlicher sein. Es ist Sonnenschein, die Felder stehen dicht und schwer, denn es ist Erntezeit auf einer Farm - am Ende der Zeit. Ein Farmer auf einem roten Traktor bringt die Ernte ein, begleitet von seinem Haustier “Miffly”, einem - Dinosaurier. Der bis zum Schluss namenlose Farmer ist der einzige Überlebende der Kausalitätskriege, die begannen, kurz nachdem die Menschen die Zeitreise erfanden. Oder kurz davor, Zeitreisen sind verdammt kompliziert. Sie zu verstehen. Leider nicht sie zu unternehmen, aber unser Farmer hat es ein für alle Mal geschafft, das zu ändern, weshalb er der Sieger ist und damit der letzte und einzige Überlebende besagter Kausalitätskriege. Haha. Natürlich nicht. Das wars. Keine Rezensionen, das muss man zugeben, Leseanregungen, aber wenn man mir nach fünfzehn Jahren Studio B eine Empfehlung im Wert von 4 €, respektive, 10 € nicht mal unbesehen abnehmen kann, dann kann man auch gleich den “unsubscribe” Button klicken. Nein! Nicht! Denn sehr bald werde ich von einem richtigen dicken Buch berichten, ausgerechnet einem Ökothriller, obwohl ich das Genre fast so sehr hasse wie Kurzgeschichten und, man glaubt es kaum, wahrscheinlich sogar von deren zwei und, wenn wir alle noch ein bisschen durchhalten, gibt es hier in in mittlerer Zukunft von einem Buch zu berichten, welches noch nicht der Rede wert ist. Uh.. Geheimnisvoll. This is a public episode. If you would like to discuss this with other subscribers or get access to bonus episodes, visit lobundverriss.substack.com
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Die Diskussion: Herron, Murata, Strout
Die Diskussion: Herron, Murata, Strout
Episode in Studio B
Liebe Hörerinnen, liebe Hörer. Mikrophone sind auch nur Menschen, oder auch Computer, überhaupt alles, was kein Hirn hat, sind eigentlich nur Menschen. Und so entschied sich ein Element in der Kette von Unserem Hirn zu Eurem per Vokalübertragung in Minute 0:41 der Aufnahme den Dienst zu versagen und fiel damit Irmgard Lumpini in's Wort, auf dass nun leider nur wir den extrem klugen Gedanken, den sie inmitten zu äußern war, kennen. Er war grandios. Er war einzigartig. Danach kam nur noch Verabschiedung und derlei, so dass wir Euch trotz fehlender vier Minuten am Ende der Diskussion diese nicht vorenthalten wollen. Und keine Sorge, alle Bücher und deren Rezensionen wurden ausführlich und kontrovers diskutiert, also: This is a public episode. If you would like to discuss this with other subscribers or get access to bonus episodes, visit lobundverriss.substack.com
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Elizabeth Strout: Lucy by the Sea - A Novel
Elizabeth Strout: Lucy by the Sea - A Novel
Episode in Studio B
Als ich Anfang Februar 2020 von Berlin nach Bangkok flog, wurde ich am Gate gefragt, ob ich kürzlich in China gewesen wäre. Damals gab es die ersten Berichte über den Coronaausbruch und vorsorglich war ein kurzer Abstecher nach Südchina, der ohne Visum für 3 Tage möglich gewesen wäre, doch abgesagt worden. In Thailand verbrachte ich Tage in der übervollen Stadt Bangkok, aber die Ressorts waren bereits wie ausgestorben. In Vietnam trugen die Hotelangestellten Masken, und sie berichteten, dass es weniger Touristen als sonst gäbe. Anfang März war ich das letzte Mal bei einem Konzert und kann mich erinnern, wie man sich nicht mehr die Hand gab oder umarmte, sondern sich mit der Berührung der Fußinnenseite begrüßte. Ich sagte zu einigen, dass dies wohl das letzte Mal für lange Zeit wäre und erntete ungläubige Blicke. Ich erinnere mich, dass ich danach voller Wehmut in eine Kneipe ging und voller schlechter Laune nach Hause. Die folgenden Monate sind seltsam verschwommen und ich erinnere mich an einen Artikel, der mir half. Er hieß: Was du fühlst ist Trauer. Vor einigen Tagen las ich einen Essay, der sich mit dem Phänomen beschäftigte, wieviel aus der Zeit hinter einem Schleier liegt, obwohl es nicht lange her ist. Über eine Kurzrezension stieß ich auf Elizabeth Strouts “Lucy by the Sea - A Novel”, welches im Oktober letzten Jahres erschien und noch nicht in deutscher Übersetzung vorliegt. Protagonistin des Werkes ist - Überraschung! - die im Titel erwähnte Lucy. Diese ist eine ältere Autorin, deren 2. Ehemann vor 2 Jahren verstorben ist, aus erster Ehe zwei erwachsene Töchter hat und in New York lebt. William, ihr erster Ehemann, zu dem sie ein gutes Verhältnis hat, organisiert, dass beide gemeinsam in einem alten Haus an der Küste Maines Zeit verbringen werden, nur ein paar Wochen, wie er ihr versichert. Während William die Situation richtig einschätzt und auch für die Töchter versucht ein geschütztes Leben zu organisieren, braucht Lucy Wochen, und selbst dann scheint ihr vieles nicht klar, wie hinter einem Schleier. Ein einsames Leben, von den Nachrichten wendet sie oft die Augen ab. Nur wenige Ereignisse wie die Black Lives Matter Bewegung und der Sturm aufs Capitol brennen sich ihr ein.  Dabei ist die Innensicht von Lucy nicht das Beherrschende in diesem Roman. Elizabeth Strout ist viel zu schlau, um das Innenleben einer älteren privilegierten Frau, die es sich leisten kann, ihre geliebte Stadt zu verlassen, die später zu einem dramatischen Brennpunkt der Pandemie wird, zum beherrschenden Thema zu machen. Unterschiedliche Perspektiven werden durch ihre Familie, ihren Bekanntenkreis, die Ereignisse im Leben ihres ersten Ehemanns William, ihre neuen Freundschaften und Kontakte zu Personen, die sie zurückhaltend als “Anhänger des aktuellen Präsidenten” bezeichnet skizziert. Elizabeth Strouts preisgekrönte Werke, für die sie unter anderem den Pulitzer Preis, den Siegfried Lenz Preis oder Nominierungen für den Booker Prize erhalten hat, beleuchten wiederholt die gleichen Protagonisten an verschiedenen Zeitpunkten ihres Lebens, bei einschneidenden Ereignissen. So ist Lucy auch einer der Hauptpersonen in “My Name is Lucy Barton” und “Oh William!”. Die Romane sind unabhängig voneinander lesbar, es braucht nicht die Lektüre der anderen Werke. Dabei ist bemerkenswert, dass - anders als manchmal in Romanreihen mit wiederkehrenden Protagonisten - die Beschreibung vergangener Geschehnisse nicht gehetzt oder als notwendiges Anhängsel und Wiederaufzählen vielleicht bekannter Fakten erscheint, sondern diese Geschehnisse zu unterschiedlichen Zeitpunkten ihrer Reflexion unterschiedlich bewertet werden, weil die Personen älter geworden sind, sich ihre Sicht verändert hat. Für jede Zeit - besonders bei herausragenden, die Geschichte vieler Menschen berührender Ereignisse - wird in der Literatur mithilfe von Romanen versucht, einen Sinn zu finden, eine Erklärung, vielleicht Zusammenhänge und Einsichten. Elizabeth Strouts “Lucy by the Sea - A Novel” gelingt dies für die noch nicht beendete Corona Pandemie. Dabei ist Lucys Geschichte keine allgemeingültige, die aber mit Mitgefühl symbolhaft auch andere Lebensrealitäten abbildet. Am Ende des Romans sind Lucy und die anderen gewandelte Personen, es wird kein Zurück zu einer früheren Normalität geben, denn nichts ist mehr gleich, vielleicht ähnlich. Ein melancholisches Werk, welches seinen Reiz auch daraus bezieht, dass wir gerade alle selbst diese Tage, Wochen, Monate durchlebt haben: die dunklen Zeiten mit fieberhafter Forschung, ohne Impfung oder Aussichten darauf, die ganzen geschlossenen Orte, all die Unsicherheiten, die Angst und den Verlust von Menschen. Später dann die Hoffnung, die bittere Erkenntnis, das selbst ein so einschneidendes Erlebnis nicht dazu geführt hat, dass irgendetwas gerechter wird. Und die Bestätigung, was uns tragen kann: Freundschaften und Liebe. This is a public episode. If you would like to discuss this with other subscribers or get access to bonus episodes, visit lobundverriss.substack.com
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Sayaka Murata - Die Ladenhüterin
Sayaka Murata - Die Ladenhüterin
Episode in Studio B
Meine bisherigen Erfahrungen mit japanischen Autorinnen und Autoren beschränkten sich aktuell leider nur auf Banana Yoshimoto und Haruki Murakami, von denen ich zwar jeweils einige Bücher gelesen hatte – Yoshimoto auch rezensiert – aber über die ich eben noch nicht hinaus gekommen war. Eine willkommene Abwechslung und ein guter Start ins Lesejahr 2023 war daher die Empfehlung, Sayaka Murata zu lesen, die ich kürzlich bekam. Gespannt, ob Die Ladenhüterin, welches bereits 2016 im Original erschien und 2018 im Aufbau Verlag in deutscher Ausgabe veröffentlicht wurde, ähnlich schräg sein würde, wie es meine bisherigen rudimentären Erlebnisse mit der japanischen Literatur waren, widmete ich mich diesem schmalen Roman. Protagonistin und Ich-Erzählerin ist die 36-jährige Keiko Furukura, die bereits seit über 18 Jahren in einem Convenience Store arbeitet, der rund um die Uhr, an sieben Tagen die Woche geöffnet hat und welche in Japan kurz Konbini genannt werden. Über ihren Beginn als Arbeitskraft in dem Markt sagt sie folgendes: „Mein erster Tag im Konbini war mein Geburtstag als normales Mitglied der Gesellschaft.“ (S. 22) Hintergrund dieser befremdlichen Formulierung ist die Tatsache, dass Keiko sich bereits seit ihrer Kindheit als nicht normal fühlt und ihr permanent von ihrer Umgebung dieses Gefühl vermittelt wird. Dies wird dem Lesenden in Rückblicken auf ihre Kindheit deutlich gemacht. Als sie beispielsweise als Kind einmal einen toten Vogel findet und ihn ihrer Mutter bringt, möchte diese ihn beerdigen. Keiko versteht allerdings nicht, warum man ihn nicht stattdessen essen soll – ihr Vater mag doch so gern gegrilltes Geflügel. Um ihren Eltern keinen Kummer mehr zu bereiten und nicht weiter aufzufallen, entschließt sie sich eines Tages zu folgendem drastischen Schritt: „Ich tat nur noch, was die anderen taten, folgte allen Anweisungen und stellte so gut wie jede eigene Lebensäußerung ein.“ (S. 14) So schafft sie es auch durch ihr Studium, wobei sie auch hier keine neuen Kontakte aufbaut. Erst als Mitarbeiterin im Konbini fühlt sie sich als brauchbares Mitglied der Gesellschaft. Die Geräusche des Marktes hat sie auch zu Hause noch im Ohr und sie beruhigen sie und helfen ihr einzuschlafen. Zudem hat sie sich angewöhnt, die Stimmen ihrer Kolleginnen zu imitieren oder auch deren Kleidungsstil nachzuahmen. Zudem meint sie selbiges Verhalten auch bei ihren Kolleginnen und deren Freundinnen zu beobachten und stellt fest: „Diese Art der Anpassung macht offenbar einen großen Teil unseres Mensch-Seins aus.“ (S. 28) Sayaka Murata führt uns anhand des kleinen Systems Konbini und ihrer Protagonistin vor Augen, dass Anders-Sein in der japanischen Kultur nicht erwünscht ist. Gefühle und Verhalten, die nicht der Norm entsprechen, sind etwas Negatives, das nicht verstanden wird und als eine Art Krankheit empfunden wird, die es zu heilen gilt. Jeder hat seine Funktion und so fühlt sich auch Keiko nie wohler als in jenen Momenten, in denen sie sich als kleines Rädchen in der täglich neuen Geschäftigkeit der Welt spürt und als Individuum möglichst gar nicht auffällt. Es gibt nur zwei Probleme: Sie ist eine Frau und sie ist nicht mehr jung. Während ihr Aushilfsjob während ihres Studiums völlig legitim war, stellt sich nun, da sie bereits 36 ist, die Frage, warum sie keinen vollwertigen Beruf hat oder verheiratet ist und gar nicht mehr arbeitet. In Japan gelten Frauen, die mit über 30 noch nicht verheiratet sind, nach wie vor als Verlierer. Sind sie verheiratet und haben auch Kinder, ist es die Aufgabe der Frau, diese zu versorgen und sich um den Haushalt zu kümmern, was sich mit beruflichem Erfolg oft nicht vereinbaren lässt. Keiko kann jedoch nichts davon vorweisen, weshalb sie sich immer häufiger Fragen anhören muss, warum sie keinen Partner oder einen anderen Job hat. Dabei scheint sie an Männern oder sexuellen Beziehungen im Allgemeinen gar kein Interesse zu haben und die Arbeit im Konbini füllt sie so aus, dass sie sich mit Hilfe ihrer Schwester Ausreden ausdenkt, weshalb sie keine andere Arbeit verrichten kann. Schließlich lernt sie Shiraha kennen, einen Mann Mitte 30, der zunächst ebenfalls im Konbini arbeitet, seine Anstellung aber aufgrund seiner Faulheit und seines respektlosen Verhaltens schnell wieder verliert. Die Meinung ihres Chefs und ihrer Kolleginnen über Shiraha fällt folgendermaßen aus: „Aus dem wird nichts mehr. Er ist erledigt. Eine Last für die Gesellschaft. Der Mensch hat die Pflicht, ein nützliches Mitglied der Gesellschaft zu werden, indem er einen Beruf ergreift oder eine Familie gründet. Oder beides.“(S.59/60) Shiraha, der zwar das System kritisiert und der Meinung ist, dass sich seit der Jōmon-Zeit in Japan nichts verändert hat, ist aber letztlich ein Nutznießer Keikos' Großzügigkeit und lässt sich von ihr durchfüttern, als sie ihn bei sich aufnimmt. Obwohl sie beide nicht der Norm entsprechen, kritisiert er sie ständig und macht sie zum Puffer seiner eigenen Unzufriedenheit. Keiko hingegen scheint mit ihrem Leben im Konbini zufrieden zu sein, sie hat keinen hohen Ansprüche und ist es leid, sich ständig für ihr Leben rechtfertigen zu müssen: „Wie lästig, warum brauchten die anderen zu ihrer eigenen Beruhigung ständig Erklärungen?“ (S. 39) Die Themen, die Sayaka Murata in ihrem Roman zur Sprache bringt, sind aber kein ausschließlich japanisches Phänomen. Die Frage nach dem „Was ist eigentlich normal?“ mag zwar immer auch in Abhängigkeit zum eigenen Kulturkreis stehen, letztlich beantwortet sie aber jeder für sich selbst. In Keikos Fall entsteht ihr Gefühl des Nicht-Normal-Seins ja gar nicht aus ihr selbst heraus, sondern aus ihrem Umfeld. Was im Umkehrschluss vielleicht zeigt, wie merkwürdig doch diejenigen sind, die sich für normal halten. Murata macht uns aber auch auf das starre Rollensystem ihres Landes aufmerksam, das es Menschen schwer macht, individuell zu sein. Ein Ladenhüter ist ein Artikel, der sich schlecht oder fast gar nicht verkauft und indem Muratas Roman im Deutschen Die Ladenhüterin heißt, bekommt er gleich eine doppelte Bedeutung. Keiko, die in Bezug auf Partnerschaft und Ehe ein Ladenhüter ist, die aber auch eine Hüterin des Konbini, also eines Ladens, ist. Ein Roman, der zunächst vielleicht etwas befremdlich anmuten mag, aber in seiner Kürze, Prägnanz und Klugheit das Panorama einer Gesellschaft entfaltet und ohne großen Spannungsbogen in seinen Bann zieht und zum Nachdenken anregt. Eine ausgesprochene Empfehlung. This is a public episode. If you would like to discuss this with other subscribers or get access to bonus episodes, visit lobundverriss.substack.com
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Mick Herron - Slow Horses
Mick Herron - Slow Horses
Episode in Studio B
Storytelling ist alles. Da hat sich seit Homer nicht viel geändert. Ein paar Jahre nach dem alten Griechen brachte Shakespeare uns bei, dass Sprachwitz einer guten Erzählung nicht entgegenstehen muss und noch ein paar Jahrzehnte später John Le Carré, dass ein Held auch unauffällig sein kann. Viel mehr ist in dreitausend Jahren Literaturgeschichte nicht passiert, wenn wir uns mal ehrlich machen.  Wenn im spätkapitalistischen Verlagswesen also kurz nach dem Ableben von John Le Carré ein Nachfolger durch die Feuilletons geschrieben wird, kann der Literaturkritiker von FAZ bis TAZ nicht viel mehr machen als der Ansage hinterher zu hecheln, zumal der TV-Kritiker aus dem "Homeoffice" berichtet, dass Apple des gebenedeiten Nachfolgers Romane zu einer erfolgreichen TV-Serie verwertet hat.  Wir hier, im Nischensegment, könnten das ignorieren, aber da wir gesellschafts- wie popkulturell dennoch fester verankert sind, als wir das manchmal zugeben, haben auch wir von "Slow Horses" gehört, einem Roman aus dem Jahr 2010, als, John Le Carré noch 10 Jahre und vier Romane vor sich hatte, womit wir den Marketingkapitalisten mal wieder auf die Spur gekommen wären, "Le Carré-Nachfolger" my ass. Aber es wurde genug Wind und Amazon Prime - Sonderangebot gemacht, als dass man in die Romane von Mick Herron, Brite, Jahrgang ‘63, nicht mal hineinlesen könnte, es ist Weihnachten und kalt, und niemand sollte woanders sein als im Ohrensessel. Wir sind im London der späten Nuller und die Anschläge auf U-Bahn und Busse am 7.7.2005 sind noch gewärtig. Das lernen wir weniger, als dass wir einem MI5 Agenten atemlos zu schauen, wie er ebenso atemlos einem Nachahmer dieser Anschläge durch die Etagen eines Londoner Eisenbahnknotenpunktes hinterherhetzt. Zehn Seiten grandioser Verfolgungsjagd später kommt er den Bruchteil einer Sekunde zu spät. Der Terrorist mit blauem Hemd und weißem Pullover zieht unter dieser scheußlichen Farbkombination den Strick und der Prolog endet.  Wir reminiszieren kurz und sind ein wenig verwundert, denn ein paar Sachen passten auf diesen zehn Seiten nicht zusammen. Lady Di, 1997 in einem Pariser Autotunnel totgehetzt, kam im inneren Monolog des Agenten vor und wir haben diesem Monolog so intensiv zugehört und all unsere Jason Bourne und Mission Impossible Erfahrungen sagen uns, dass es das nicht gewesen sein kann, wer baut schon einen potentiellen Helden in seiner ganzen Pracht auf zehn Seiten auf, um ihn dann ein paar Sekunden zu spät kommen zu lassen. Und wieso Lady Di? Aber, no spoilers, ein paar Seiten weiter im Buch versteht man, warum Mick Herron ausgewählt wurde, die breite und tiefe Lücke zu füllen, die das Ableben des unbestrittenen Meisters der Geheimdienstliteratur gerissen hat. Da wäre zunächst der auffällig unauffällige Hauptheld. Mick Herrons George Smiley wird zwar genauso unterschätzt, ihn als "unauffällig" zu beschreiben, wäre jedoch schmeichelhaft. Jackson Lamb, so sein Name , Chef einer Abteilung des MI5, sitzt vor allem im Sessel zurückgelehnt in seinem Arbeitszimmer mit abgedunkelten Gardinen, egal zu welcher Tages- und Nachtzeit, mit geschlossenen Augen, die Beine auf dem Tisch. Dabei hat er die Schuhe aus, eine Palette chinesischen Take-Out Foods auf dem großen Bauch, eine Zigarette im Mund und um den olfaktorischen Orkan perfekt zu machen furzt er, während er seine Angestellten beleidigt. Das macht er in brillantem Zynismus, mit immer einer neuen, unerwarteten Volte dreht er den Armen Unterspionen die Worte im Mund um und haut sie ihnen um die Ohren, dass es mir eine Freude sei. Arbeitsrechtlich ist das selbst im MI5 mit seinen halboffiziellen und nicht wirklich verfassungstreuen Regeln kompliziert, und ja, Großbritannien hat keine Verfassung. Trotzdem. Von Beleidigungen hart am Rassismus dem Hackerkid in der Abteilung mit dem chinesischen Namen gegenüber bis zur Unart seiner Sekretärin, einer trockenen Alkoholikerin seit Jahren, Whiskey anzubieten, lässt Lamb keine Provokation und keine Erniedrigung aus und wir sind mindestens bis fast zum Ende des ersten Bandes nicht sicher, warum er das macht. Ok, seine Angestellten sitzen mit ihm zusammen in "Slough House", der Abstellkammer des Inlandsgeheimdienstes, dort wohin du abgeschoben wirst, wenn Du Scheiße gebaut hast, oder spielsüchtig bist oder die unglückliche Person gewesen bist, die nach dem Selbstmord Deines Chefs per Kopfschuss diesen in der Badewanne gefunden hat. Jeder der hervorragend gebauten und geschriebenen Charaktere hat einen Karriereknick, besser, einen Karriereverkehrsunfall  mit 100 in die Mauer hinter sich, ist aber nicht kündbar und muss nun in "Slough House" solange sinnlose Bürojobs erledigen, bis er, so die Hoffnung des MI5, von selbst kündigt. Jeder Charakter hat entsprechend eine tiefe innere Verletzung, oft resultierend in einer Sucht: Alkohol, Kokain, Adrenalin und auch der Chef, Jackson Lamb, ist davon nicht frei. Er ist ein alter Kalter Krieger, eine weitere Reminiszenz an Le Carré, und hat hinter dem eisernen Vorhang seine Wunden erhalten. Wir erfahren, zumindest bis zum dritten Teil, in dem ich mich aktuell befinde, nicht wirklich, was passiert ist, aber, dass er dort und damals nicht nur sein Handwerk gelernt hat, sondern auch, was Leid und Verletzung ist, scheint klar. Das schweißt die "Slough House" F**k-Ups zusammen obwohl sich alle hassen, denn wer will schon jeden Tag daran erinnert werden, was für ein Loser er ist, indem er in einem abgefuckten Büro mit einem halben dutzend anderer Loser sitzt. Aber wir lesen gute Romane lange genug, um zu wissen, dass das alles worldbuilding ist und dass wir uns auf dem Weg in eine Story befinden, in der die Helden erwartbar aus einer unerwarteten Ecke kommen, hier: "Slough House". Der erste Band heißt im Original (wie überraschend in der deutschen Übersetzung auch) "Slow Horses", also ein phonetisches Wortspiel und damit kommen wir zum Shakespeare im Autor: Ja, Mick Herron schreibt köstlichste Dialoge, er liebt die nicht offensichtliche Formulierung um eine Szene zu setzen, er ist ein Meister der sparsam eingesetzten Metapher aber, und hier scheidet sich der Herrons Schreibe liebende Weizen von sehr unsicherer Spreu: er neigt zum Kalauer, zum pun. Der titelgebende Begriff Slow Horses, für abgeschobene weil defekte Mitarbeiter im "Slough House", geschrieben S-L-O-U-G-H, weil benannt nach einer abgefuckte Kleinstadt gleich außerhalb der Londoner Stadtgrenzen, ist schon irgendwie ein schlimmes Wortspiel, aber erst die Namen: der gewiefte und unterschätze Chef heißt Lamb, Lamm, der zweite Hauptheld mit Vornamen River, der Hacker heisst Ho, ein korrupter Politiker von Rechtsaußen mit Initialen PJ, Boris Johnson wir hören dir trapsen. Alles klingt irgendwie grenzwertig und gewollt und ist nur mit der festen Gewissheit zu ertragen, dass Mick Herron als Engländer das alles natürlich ironisch meint.  Storytelling ist alles. Mick Herrons "Slough House" Serie nun auf Krampf mit Homer's "Iliad" zu vergleichen würde den von geneigten Lesern selbstverständlich sofort als Ironie verstandenen ersten Absatz der Rezension Ernsthaftigkeit zuerkennen, dennoch, Mick Herron ist ein guter Geschichtenerzähler und die einzelnen Bände der Serie halten bei der Stange. Der moderne Spionagethrillerautor hat das Problem, dass er Gefahr läuft, zu nahe am Wind der sich ständig ändernden politischen Verhältnisse zu Segeln und die Romane damit zu vorschneller Unlesbarkeit zu verdammen. Die Londoner U-Bahnanschläge vom 7. Juli 2005 sind in 2022 nur noch wenigen Lesern gewärtig, so dass der 2010 geschriebene erste Roman der Serie altbacken wirkte, würde sich das Thema der ersten Seiten, wir erinnern uns, ein Anschlag auf die Londoner U-Bahn wird scheinbar nicht vereitelt, durch das ganze Buch ziehen. Da hatte es John Le Carré einfacher, bei allen politischen Ereignissen zwischen 1950 und 1990 war es doch für den Leser eines Buches ob aus 1965 oder 1980 klar, worum es ging: um den Kalten Krieg. Und wenn er ein generelles Faible fürs Genre hatte, fand er sich zurecht und das interessant. Mick Herron hat diesen Luxus nicht und verwendet deshalb aktuelle Ereignisse oft nur als Background und widmet sich einem Dauerbrenner der internationalen Spionage: Der internen Intrige. Was Sinn hat, hat er doch im Set-Up der Reihe ein halbes Dutzend Charaktere genau diesen zum Opfer fallen lassen.  Mick Herron beherrscht jeden Trick der Thrillerliteratur und so sind wir oft genug überrascht, obwohl wir meinten, alles kommen gesehen zu haben, ob es ein Twist in der Handlung ist oder ein plötzlicher Todesfall eines Helden nach zehn Seiten. Das der Autor der neue John Le Carré sein soll, können wir seinem Verlag und dessen PR-Maschinerie jedoch nicht abnehmen. Er wandelt, wie jeder Autor, in den Fußstapfen von Shakespeare stehend auf den Schultern von Homer, aber an Le Carré kommt objektiv niemand so schnell ran. Und doch belehre ich mich und andere gerne eines Besseren zur Diskussion in drei Wochen, wenn ich mich ziemlich sicher durch den Rest seines Oeuvres gepageturned habe. This is a public episode. If you would like to discuss this with other subscribers or get access to bonus episodes, visit lobundverriss.substack.com
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Weihnachten 2015 mit Kollegen
Weihnachten 2015 mit Kollegen
Episode in Studio B
Da wir über den Jahreswechsel etwas rezensionsmüde waren, hier ein Weihnachtsklassiker aus unbeschwerten Zeiten. Am Gabentisch nicht nur Irmgard Lumpini und Herr Falschgold, sondern auch Heiko Schramm und ein geschätzter Arbeitskollege von Anne Findeisen: Mirko Glaser. Halbwegs funktionierende Links zu den vorgestellten Büchern finden sich in unserem Archiv. In der nächsten Woche rezensiert Herr Falschgold den le Carré des dritten Jahrtausend: Mick Herron. This is a public episode. If you would like to discuss this with other subscribers or get access to bonus episodes, visit lobundverriss.substack.com
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Studio B Klassiker: Philip K. Dick - Flow My Tears, the Policeman Said
Studio B Klassiker: Philip K. Dick - Flow My Tears, the Policeman Said
Episode in Studio B
(1)Fließt, meine Tränen, euren Quellen entspringt!Für immer verbannt lasst mich klagen.Wo der schwarze Vogel der Nacht seine Schande besingt,Dort lasst mich mein Unglück tragen. (2)Aus, eitle Lichter, nicht mehr strahlt!Die Nacht ist nicht schwarz genug für einen,Der sich das verlorne Glück ausmalt,Wenn Licht will nur der Schande scheinen. (3)Nimmer mehr find ich Erleichterung vom Leid,Seit das Mitgefühl entronnen.Und Tränen, Seufzer, Klagen in schwerer ZeitHaben mir all meine Freuden genommen. (4) Lauscht! Ihr Schatten, die ihr im Dunkeln lauert,Lernt, das Licht zu verdammen.Seid glücklich, die ihr in der Hölle kauert,Ihr könnt nicht die Tücke der Welt empfangen. John Dowland, 1600 “Flow My Tears, the Policeman Said” ist der schönste Buchtitel, den ich kenne. Am Ende des letzten Jahrhunderts, als es noch schwieriger war, an amerikanische Bücher im Original zu gelangen, erwarb ich eine Kopie in einem vollgestopften Buchladen auf dem Campus der Cornell University, zusammen mit 4 weiteren des Autoren Philip K. Dick.  Philip K. Dick stellt die 1., 2., 3. und 5. Strophe des Gedichtes “Fließt meine Tränen”, die er im Titel um den Zusatz “,the Policeman Said” ergänzt hat, den 4 Teilen seines Werkes voran. In der deutschen Übersetzung trägt der Roman den eher schnöden Titel “Eine andere Welt”, der die Assoziation zu einem anderen dystopischen Werk hervorruft, Aldous Huxleys “Schöne neue Welt”. Ein Vergleich der ersten Seiten des Originals mit der deutschen Übersetzung von Michael Nagula ergab eine sehr hohe Übereinstimmung, so dass ich im Folgenden die deutsche Ausgabe bespreche. 1974 veröffentlicht, dem Jahr, in dem Richard Nixon nach der Watergate-Affäre zurücktrat, hat Philip K. Dick die Handlung seines Romans “Flow My Tears, the Policeman Said” in der nicht weit entfernten Zukunft 1988 angelegt. Utopische Romane, deren einst futuristische Handlung beim Zeitpunkt des Lesens mittlerweile in der Vergangenheit liegt, laden zum Vergleich mit der als “wahr” oder “tatsächlich” stattgefundenen Geschichte ein. Dagegen spricht, dass Science Fiction Romane, sofern sie nicht nur um imaginierte technische Entwicklungen kreisen, gesellschaftliche Fragen und ihre inhärente Moral behandeln, die unabhängig von der Zeit existieren. Philip K. Dicks “Flow My Tears, the Policeman Said” erzählt in 3 Teilen die Geschichte einiger weniger Protagonisten über den Zeitraum weniger Tage. Der galaktisch erfolgreiche Jason Taverner, Sänger und Moderator einer wöchentlichen Variety-Show mit 30 Millionen Zuschauern wacht nach einer Attacke einer frustrierten Ex-Geliebten in einem heruntergekommenen Hotelzimmer auf und muss feststellen, dass er nicht mehr existiert. Nicht nur sind ihm seine ganzen Ausweisdokumente gestohlen wurden, es kann sich auch niemand an ihn erinnern, niemand kennt ihn. Die wenigen Protagonisten des Buches und ihre Begegnungen, manipulativen Gespräche und Verwicklungen bilden die Hauptteile der Handlung. Aus Gesprächsfetzen und wenigen dürren Absätzen, die über das Buch verteilt sind, wird die dystopische Gesellschaftsvision sichtbar, die Philip K. Dick unter dem Eindruck der Nixon-Administration schuf. Nach dem Ende des 2. us-amerikanischen Bürgerkrieges hat sich ein faschistisches Regime etabliert, in dem die Nationale Garde, kurz “Nats” und die Polizei, hier “Pols”, eine grenzenlose Überwachungsmaschinerie erschaffen haben, in der für geringste “Vergehen” das Leben im Zwangsarbeitslager droht. Die Universitäten wurden geschlossen, hier fristen radikal-oppositionelle Studenten in unterirdischen Kibuzzim ein klägliches Dasein. Der Gebrauch von rekreationalen Drogen ist üblich. Durch ein rassistisches Sterilisationsgesetz verschwindet die schwarze Bevölkerung. Ein gesellschaftliches Leben mit offenen Treffpunkten oder Parks gibt es nicht, Altruismus existiert nicht. Wenn Menschen etwas austauschen, sind es nur Kontrolle, Gewalt, Geld oder Sex. Die Beziehungen, die Philip K. Dick in “Flow My Tears, the Policeman Said” zeichnet sind missgünstig, voller Streit oder Manipulation. Eine Gesellschaft, die sich also im permanenten Zustand des menschlichen Zusammenbruchs befindet, wie sie in John Dowlands Lied “Fließt meine Tränen” beschrieben wird. Dabei waren Philip K. Dick Ängste gegenüber Richard Nixon und der von ihm geführten Institutionen nicht unbegründet. Er verschleppte nicht nur die Friedensverhandlungen zum Vietnamkrieg und trug somit für diesen sinnlosen Krieg die Verantwortung, er unterdrückte brutal revolutionäre Bewegungen und kreierte den sogenannten War on Drugs. Ein Vertrauter Richard Nixons gab 1994 zu Protokoll: Zitat - "Die Nixon Kampagne 1968 und die folgende Regierung hatte zwei Feinde: Die linken Kriegsgegner und die Schwarzen. [...] Wir wussten, dass wir es nicht verbieten konnten, gegen den Krieg oder schwarz zu sein, aber dadurch, dass wir die Öffentlichkeit dazu brachten, die Hippies mit Marihuana und die Schwarzen mit Heroin zu assoziieren und beides heftig bestraften, konnten wir diese Gruppen diskreditieren. Wir konnten ihre Anführer verhaften, ihre Wohnungen durchsuchen, ihre Versammlungen beenden und sie so Abend für Abend in den Nachrichten verunglimpfen. Wussten wir, dass wir über die Drogen gelogen haben? Natürlich wussten wir das!" - Zitatende. Zurück zum Roman: Philip K. Dick setzt Fragen der Identität und Realität als Hauptthemen seines Romans. Psychotische Erkrankungen und Drogen, viele Drogen, schaffen hier eine Vielzahl von Realitäten, die äußerst subjektiv und nicht allgemeinverbindlich sind. Von der für viele Menschen erlebten Wirklichkeit in den Zwangsarbeitslagern erfahren wir in “Flow My Tears, the Policeman Said” nichts außer ihrer Existenz, damit wird ihr Schrecken verstärkt. Jason Taverner, der zu einer kleinen Gruppe von Menschen - den sogenannten “Sechsern” gehört, die durch genetische Modifizierungen, an einer anderen Stelle wird der Ausdruck “eugenische Experimente” gebraucht, entstanden sind, und die deshalb besonders charmant wirken und große Überzeugungskräfte haben, ist als erfolgreicher Entertainer sehr reich. Damit wird es ihm ermöglicht, außerhalb des Systems nach Lösungen für sein Problem zu suchen. Jason Taverner findet eine Fälscherin, Kathy Nelson, die ihm zunächst hilft, aber auch als Polizeispitzel arbeitet, weil sie ihren Mann aus einem Lager herausbekommen will. Diese bezeichnet ihn als Psychotiker, allerdings wird ihr im Gegenzug selbst eine Psychose zugeschrieben. Alle Menschen, die Jason Taverner bei seinen Versuchen trifft, seine Identität zurückzuerhalten, sind von Drogenmissbrauch oder Unglück gezeichnet. Wenn sie reich sind, versuchen sie sich Auswege aus ihrer alptraumhaften Wirklichkeit zu kaufen. Diese Versuche sind nie dauerhaft erfolgreich. Zu einem Gegenspieler Jason Taverners entwickelt sich Polizeigeneral Felix Buckman, der nicht an einen Fehler des Systems glauben will, als dieser sich nicht im System finden lässt. Er wird als ein Mann porträtiert, der sich für Geschichte interessiert. Es gibt längere Ausflüge in die Musikgeschichte, beim Nachdenken über sein Leben wird sein Selbstbild so gezeigt: - Zitat - “Ich bin wie Byron, der um seine Freiheit kämpft, sein Leben für den Kampf um Griechenland gibt. Nur dass es mir nicht um die Freiheit geht - sondern ich kämpfe für eine harmonische Gesellschaft.” Zitatende. Wenig später führt sein Denken ihn dazu sich einzugestehen, dass er Ordnung will, Strukturen, Regelungen. Je nach Lesart eine außerordentliche Denkleistung, Verdrängung oder psychische Störung: sich selbst in der Rolle eines Freiheitskämpfers zu romantisieren, dabei aber diametral für ein faschistisches Regime an leitender Stelle zu arbeiten. Dabei gibt Philip K. Dick Parallelen zwischen dem Protagonisten Felix Buckman und Lord Byron, dem englischen Romantiker. Wie dieser unterhält er ein inzestuöses Verhältnis mit seiner Schwester. Im Falle Byrons war es eine Halbschwester, bei Felix Buckman ist es seine Zwillingsschwester Alys, die er gleichzeitig ob ihres Lebensstils verabscheut, der als unkontrollierbar, frei, selbstbestimmt und außerhalb der vom Regime vorgegebenen Normen gesehen werden muss. Natürlich wird ihr diese Freiheit nur möglich, weil sie die Schwester eines hochrangigen Polizeibeamten ist. Philip K. Dick zieht jedoch nicht nur eine biographische Parallele, sondern gestaltet Felix Buckman als “Byronic Hero”, einen literarischen Archetypen, der - hier sei mir ein Wikipedia-Zitat gestattet - “sich die Leidenschaft der romantischen Künstlerpersönlichkeit mit dem Egoismus eines auf sich selbst fixierten Einzelgängers verbindet.” Zitatende. Die ausführlichen Beschreibungen des Kunstverständnisses von Felix Buckman können als Bearbeitung der Stilisierung des Naziregimes gelesen werden, die ihre eigenen Gräueltaten mit dem Verweis auf Goethe und Schiller abwehrten, diese “Entschuldigungen” wohnt sicher auch anderen Diktaturen und ihren Erinnerungskulturen inne. Felix Buckmans traumatisches Erlebnis, dass seine Tränen fließen lässt und seine Welt zerstört ist der Tod seiner Schwester, den Jason Taverner beobachtet, weil sie ihn nach seiner Entlassung nach der Befragung mit nach Hause genommen hat. Davor haben sie gemeinsam Drogen genommen. Und als er später mit einer gewissen Mary Ann Dominic Zeit verbringt, die er vor dem Haus der Buckmans getroffen und gezwungen hatte ihn zu einem Krankenhaus zu fahren, stellt er folgende Frage: “Vielleicht existiere ich nur, solange ich die Droge nehme.” Drogen und Paranoia sind wiederkehrende Motive, die Philip K. Dick auch im realen Leben stark beeinflussten. So war er eine Zeit lang überzeugt, eine Passage im Buch aus der Bibel nacherzählt zu haben, ohne diese je vorher gelesen zu haben. Einen Einbruch in seiner Wohnung interpretierte er als Versuch des FBI, sein Manuskript zu stehlen, dass er aber bei einem Anwalt sicher hinterlegt hatte. Doch zurück zum Roman: Felix Buckman, byronischer Held der er ist, versucht nach dem Tod seiner Schwester politisches Kapital zu schlagen, in dem er diesen seinen Feinden anhängt, von denen er befürchtet, sie könnten wiederum ihm schaden, wenn sie sein mit den öffentlichen Normen nicht konformes inzestuöses Verhältnis mit seiner Schwester öffentlich machen. Zynisch und blind für sein eigenes Tun sagt er: “Es gibt Schönheit, die nie verloren gehen wird. Ich werde sie bewahren, ich gehöre zu denen, die sie ehren. Und daran festhalten. Letztlich zählt nichts anderes.” Im 4. Teil beschreibt Philip K. Dick in einem Epilog, was mit den Protagonisten in ihrem weiteren Leben geschah. “Flow My Tears, the Policeman Said” hätte dieses abschließenden Epilogs nicht bedurft. This is a public episode. If you would like to discuss this with other subscribers or get access to bonus episodes, visit lobundverriss.substack.com
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